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Krziwan: Über die Wurzel des Okkultismus.
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Volkes auf seine Lehre. Als ihm das gelungen war, verließ
er den Schauplatz (der Kern degeneriert). Es trat nun
sein Nachfolger auf: Jesus Christus. Auch seine Entwicke-
lung zeigt Anklänge an die nämlichen Urphasen (er ging
in die Wüste), aber er trat erst dann seine Mission an, als
er für die höhere Stufe reif war. Nun wiederholt auch er
in der abstrakten und idealisierten Form des Wunders die
rituellen Gewohnheiten einer minder weit zurückliegenden
Zeit: feierliche Umzüge, Opfer, Gastmäler, Krankenheilun-
gen,Wahrsagerei und selbst Reminiszenz an Menschenfresserei
(Abendmahl) und steht in sichtbarem Verkehr mit Moses, den
Propheten, den Elohims und Jehova. Doch auch seine Kraft
wird erschöpft (auch dieser Kern bildet sich zurück) und er
räumt den Platz. Es erscheint Paulus. Dieser führt über
Christus hinaus durch Beherrschung des wissenschaftlichen
Technizismus seiner Epoche. Er war der Repräsentant der
letzten Kulturstufe. Das System war fertig und löste sich
als deutlich abgegrenztes Individuum vom Mutterorganismus
los. —
In wenigen Jahrzehnten hatte also das neue soziale
Wesen mit kinematogiaphischer Geschwindigkeit den Weg
der religiösen Entwickeiung der Menschheit zurückgelegt.
Der moderne Wundertäter wäre demnach dazu bestimmt
, religiöse Zeremonien einer fernen Vergangenheit
seinen Zeitgenossen vorzuführen, um in ihnen jenes Staunen,
jenes Bangen und alle anderen Gefühle auszulösen, welche
einst die Herzen der Wilden schneller schlagen ließen und
welche sie an eine feste Organisation fesselte. In Zeiten
religiösen Verfalls tritt er besonders gerne in Aktion. Es
geschieht in abstrakter, sublimierter und abgekürzter Form.
Daher erscheint nicht mehr die Gottheit in Person, wohl
aber erteilt der Führer des Mediums Aufträge aus dem
Jenseits, das gewaltige Feuer des Brandopfers wird zum
phosphoreszierenden Lichtlein, das Grauen einer nächtlichen
Schlächterei zum Grusel der Dunkelsitzung, die Mauern des
Heiligtums zur Leinwand des Kabinetts, die imposanten
Massenaufzüge zur schattenhaften Materialisation und das
fanatische Geschrei der Menge zum Kirchenliede mit Pianobegleitung
. Das Medium ist ein rudimentäres Organ am
sozialen Körper und das Wunder ein physiologisches Ubergangsstadium
der Kindheit der sozialen Zelle, ein Uber-
lebsel der Kulturgeschichte, sowie die psychologische Wurzel
einer jeden Bekehrung.
Es wäre sicherlich eine dankbare Aufgabe, unter diesen
Gesichtspunkten die Gründungsphasen der Religionen zu
studieren. Es würde sich vielleicht ergeben, daß das Auf-
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