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Friedrichsort: Eine Weltanschauung. 587
nur die durch unseren Intellekt geschaffene Trennung, das
alles, das All bist du — „tat tvam asi!"
Bedarf es, wenn dies erkannt ist, noch weiterer Worte?
Das Brahman, das Sein, die Gottheit ist und stellt sich
dar im Da sein der Welt. Der Durst nach Dasein, „tanha"
nennt's der Inder, drängt sich zur Darstellung in der unbelebten
Natur, drängt weiter: „vom Stein zur Pflanze, zu
organischem Wesen, zum Menschen aufwärts schreitend*,
und hier durch die Erkenntnis vom Leide dieser daseinsdurstigen
Welt den Willen zum Dasein zurückdrängend:
zum All zurück! Solange der Durst zum Dasein vorhanden
ist, solange ist ihm auch das Dasein gewiß! Was ist diese
körperliche Darstellungsform! Die Dauer dieser Form
ist abhängig von unserem Willen, aber nicht dem bewußten!
„b> gibt der Mensch sich selber die Gesetze — er wählt
das lichte oder düstre Los — bestimmt sich selber Leben,
Lohn und Strafe- *) - allerdings nicht dieses Tages-
bewußtsein des Intellektes, sondern unsere organisierende
Seele, die dem Seziermesser unauffindlich bleibt [wie jede
Kraft].
Ich sehe wieder das spöttische Lächeln: organisierende
Seele?! Nun, diesem Einwand zu begegnen: ist es eine
dem Bewußtsein unterliegende körperliche Tätigkeit, wenn
dort die Form der verletzten Hand gerade so und nicht
anders wiederhergestellt wird? Legt das Insekt mit Bewußtsein
kommender Zustände seine Eier gerade dort ab,
wo die ausschlüpfende Brut Nahrung finden kann, Nahrung
, die zur Zeit noch garnicht vorhanden ist? Der
Embryo des Säugetieres bildet sich eine Lunge, noch ehe
es zu atmen, ein Auge, noch ehe es zu sehen vermag!
Also so ist zielbewußtes organisierendes Leben wirksam an
der Arbeit, noch ehe ein Bewußtsein gebildet worden ist.
Dieses Unterbewußt sein — Unter bewußtsein, mit
gleichem Rechte aber auch Uber bewußtsein zu nennen
— ist die Tätigkeit einer organisierenden Seele, der
Gattungswille gegenüber dem Individualwillen. Die Sorgfalt
für die beharrende Gattung, die Nichtachtung des
einzelnen Individuums nennt Schopenhauer diese Eigentümlichkeit
; es ist das Uberwiegen des eigentlichen Ichs
über die Erscheinungsform des Individuums, es ist die göttliche
„ Vorsehung« des Kirchengläubigen! Wir können erfahrungsmäßig
feststellen, daß eine höhere Einsicht, als die unsere,
unsere Wege bestimmt. Der Yolksmund sagt: „Es kommt
erstens alles anders, als zweitens wie man denkt*. Aber
*) Mabel Collins.
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