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604 Psychische Studien. XL. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1913.)
wir dieses Leben ertragen müssen. Mit voller Gewißheit
erkennen wir nur das Dasein der sog, subjektiven Erscheinungen
in der Gegenwart, d. h. unsere Wahrnehmungen.
3. Alles in der Welt kann also ganz anders sein
und geschehen, als wir denken, und es ist unüberlegt, unvernünftig
, eine wichtige Lehre über die großen Fragen als
allein beachtenswert anzusehen oder anzupreisen,
wenn sie auch noch so allgemein anerkannt wird.
Diese so offenbar selbstverständlich richtigt Erkenntnis wird
heute noch furtwährend auch von berühmten Denkern und
Lehrern ignoriert, und es wurde durch den furchtbaren, unmoralischen
Glaubens zwang bekanntlich , schon entsetzliches
Elend über die Menschheit gebracht.
So lange der herrschenden Unsicherheit in der Wahrheitsforschung
nicht abgeholten wird, sollte gesetzlich gefordert
werden, daß überall und immer bei der Behandlung der großen
Fragen des Lebens ausdrücklich betont werde, daß trotz
allem dem, was sich tür eine Anschauung sagen läßt, doch in
Wirklichkeit alles ganz anders sein kann. Hingegen
darf eine Lehre, die nach unseren Erkenntnisgesetzen als unberechtigt
, unbegründet erwiesen werden kann, und besonders
jede, die auffallend, offenbar widersinnig,
unvernünftig ist, für so gut als gewiß falsch,
nicht der Wirklichkeit entsprechend erklärt werden.
So muß die Annahme oder Erklärung, daß es einen vier-
dimensionalen Raum oder daß es keine räumlichen und zeitlichen
Beziehungen gibt, daß der Kaum und die Zeit nicht
unbegrenzt sind usw., sofort als v e r w e r f 1 i ch erkannt werden.
4. Es kann nie als unmöglich erwiesen werden
und ist auch nicht undenkbar, ist keine wissen-
schaftllich unberechtigte Annahme, daß uns
nach diesem Leben ein anderes Dasein erwartet.
Diese Behauptung wird jeder philosophisch geschulte
Denker sofort als unleugbar, ja als selbstverständlich
richtig erkennen; sie wird aber höchstwahrscheinlich
auch mit Hilfe aller Denker als unanfechtbar erwiesen
werden. Es ist das nicht, wie viele meinen dürften,
überflüssig da sie sonst mit ihren wichtigen Folgesätzen
nicht überall zur Beachtung gebracht werden kann.
5. Es darf also nicht als unmöglich, undenkbar
, ganz unvernünftig, herabsetzend zu
glauben erklärt werden, daß das Ich, der Geist sich
nach diesem Leben unter Umständen wieder mit einem,
vielleicht seiner Ausbildung entsprechend vollkommeneren
Körper verbindet, um weiter zu streben und zu schaffen,
sich immer mehr zu vervollkommnen, neue Wunder und
Herrlichkeiten der ungeheuren, furchtbar großartigen Welt
kennen zu lernen und sich ein immer höheres Glück zu
erringen.
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