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Wihan: Ein Aufruf an Wahrheitsfreunde. 607
Alles, was gegen die Willensfreiheit gesagt wird, beweist
nur, daß ich gewisse Zweckhandlungen nicht immer ausführen
kann, aber nicht, daß es mir je unmöglich ist, eine
gewünschte Willenserscheinung zu bewirken, wenn die sonst
nötigen Umstände vorhanden sind.
Die Wirklichkeit, daß der Mensch imstande ist, die größten
Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden, wenn er seinen
Willen durch Übung kräftigt, beweist eben auch die Freiheit
des Willens und daß der Wille eine wunderbare, geradezu
göttliche Macht ist.
Besonders wird es gewiß das Interesse der ganzen gebildeten
Welt erregen, wenn mit Hilfe aller
Denker festgestellt wird, ob die folgende Erkenntnis, zu
der ich eben erst jetzt, nach so viele Jahre langem
Forschen und Denken gelangt bin, als eine Wahrheit anerkannt
werden darf. Es wird da jede einzelne Behauptung
in der Begründung, soweit es nötig ist, als unanfechtbar
erwiesen werden, und werden wahrscheinlich
noch andere Behauptungen gefunden werden, welche die
Beachtenswürdigkeit dieser Erkenntnis noch mehr
sichern werden. Das wird gewiß zur Verbreitung eines
vernünftigen Denkens in diesen Fragen viel beitragen.
Kann es etwas Vernünftigeres, Höheres, Wichtigeres
geben, als dieses Ziel anzustreben?
9. Es m u ß in der Schöpfung vollkommenere, schönere
Welten geben, wo die fühlenden Wesen eine höhere Zu-
friedenheit erreichen können.
Da dieser Satz unendlich wichtig ist und noch nirgends
zu finden sein dürfte, will ich hier das Wichtigste aus der Begründung
kurz anführen. Dem Menschen ist es freigestellt,
dieses Leben abzukürzen, und wenn er denken lernt, gelangt
er unter Umständen immer dahin, es zu hassen und als n i c h t begehrenswert
zu erkennen und sich nach Befreiung von dieser
Last zu sehnen. Ob die Einrichtungen, wodurch dieser Zwiespalt
entsteht, nun das Werk intelligenter schaffender
Wesen oder der unbewußten Kräfte oder Stoffe und des Zufalls
sind, immer kann man sagen, daß diese Einrichtung dem
höchsten denkbaren Weltenzweck entgegen, also gegen
die Vernunft, gerichtet ist, indem die Menschen, welche
hier allein Vernunft besitzen, das viele Böse und Häßliche,
Widerwärtige als grausam, nicht gut und weise erkennen. Diese
höchsten Wesen auf Erden haben aber nicht bloß die
Fähigkeit, Lust und Leid zu fühlen, sich nach Glück zu sehnen,
und die Welt zu kritisieren, sondern auch die Macht, kraft
ihrer göttlichen Vernunft und ihres freien Willens Neues zu
schaffen, die Kräfte und Dinge der Natur zu ihren Zwecken zu
benützen, neue Einrichtungen zu treffen und so viel zur Erhöhung
des Wohlbefindens der Menschheit beizutragen. Die
höheren Geister, die es geben muß, wenn der Geist fortlebt,
müssen also gewiß viel mächtiger und weiser sein und sind gewiß
imstande, bessere, weisere Einrichtungen zu treffen, als sie
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