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Wichmann: Hellsehen vor der Schlacht. 633
Hellsehen vor der Schlacht.
Von Franz Wich mann (München).*)
„Es ist der Weg des Todes, den wir treten.* Dumpfes
Grauen vor einem geahnten Schicksal klingt aus dem
schwerwuchtigen Rhythmus dieser Worte des Goethe'schen
„Orest". Aber bei ihm erfüllt sich das Schicksal nicht in
der vorgestellten Weise und die düstere Ahnung drohender
Gefahren, die die Freunde bei der Annäherung an den
Dianatempel auf Tauris beschleicht, erklärt sich psychologisch
durchaus natürlich. Ganz anders verhält es sich
mit jenem „zweiten Gesicht", dem „second sight", der durch
ihre Sehergabe berühmten Schotten, dessen mystische, noch
in jedem Kriege beobachtete Erscheinung durchaus rätselhaft
bleibt.
Daß dem Soldaten bei bevorstehender Schlacht der Gedanke
an den Tod besonders nahetritt, ist begreiflich. Aber
dieser Gedanke pflegt nur unklar und verschwommen die
Seele zu erfüllen. De** Selbsterhaltungstrieb schreckt davor
zurück, dem finstereo Bilde klare und scharfe Umrisse
zu geben, und wie er stets den Optimismus begünstigt,
wird er die meisten mit dem trivialen Wort sich trösten
lassen: „Eine jede Kugel trifft ja nicht!*6 Auch mit der
bloßen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, sterben zu
müssen, die ernstere, ohnehin pessimistisch veranlagte
Naturen vielleicht in solchem Zeitpunkt beschäftigt, hat
jen*\s stets nur bei vereinzelten Individuen beobachtete
deutliche und bestimmte Hellsehen, die sichere Voraus-
empfmdung des nahen Todes, nicht das mindeste zu
schaffen.
Hier handelt es sich vielmehr um einen jener rätselhaften
seelischen Vorgänge, deren Schauplatz die Schwelle
zwischen Diesseits und Jenseits bildet, und die materialistische
Wissenschaft reicht mit ihrem Schlagwort „Halluzinationen
" zu deren Erklärung nicht aus. Fast alle solches
Voraussehen beweisenden Beispiele betreffen nämlich keineswegs
poetisch und schwärmerisch veranlagte Naturen,
sondern ganz schlichte und nüchterne, von jeder nervösen
Reizbarkeit freie Personen sowohl aus ungebildetem, wie
aus geistig hochstehendem Stande. Höchstens kann es sich
also um einen tranceartigen Zustand handeln, der momentan
, unter völliger Abwendung von der Außenwelt, auftritt
*) Wir entlehnen diese gedankenvolle Schilderung okkulter
Erlebnisse der „Sonntagsbeilage des Ulmer Tagblatts* Nr. 34 vom
30. August 13. — Red.
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