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Wichmann: Hellsehen vor der Schlacht. 635
nun da. — Und das verdroß ihn, denn er wollte, sobald
er nach Hause zurückkehrte, sich verheiraten. „Ein
Schauer überlief ihn," heißt es dann weiter, „er schüttelte
sich, um seine fixe Idee los zu werden, indem er mit seiner
ruhigen Stimme wiederholte: „Ja, es ist verdrießlich, ich
werde heute fallen." Einige Zeit später empfängt er denn
auch die erwartete Todeswunde. Er hatte sich umgedreht
und sah die Granate kommen; als er nicht mehr ausweichen
konnte. „Ah, da ist sie," sagte er einfach. Sein kleines
Gesicht mit den großen schönen Augen war nur tieftraurig,
ohne jeden Ausdruck des Schreckens.
Der hier von dem Dichter mit meisterhafter Schlichtheit
geschilderte Fall ist typisch, denn er weist alle jene
Merkmale auf, die sich bei solchem Voraussehen des
Schlachtentodes regelmäßig zu wiederholen pflegen, die
Plötzlichkeit der Eingebung, die unbedingte Gewißheit des
Kommenden, die ruhige Ergebung in das Schicksal und das
Ausschließen jeden Zweifels in die Verwirklichung des Geahnten
, noch dazu bei einem Menschen, dessen Natur zum
Optimismus neigt und der angesichts des geplanten glückverheißenden
Lebensschrittes sich noch an die schwächste
Hoffnung klammern müßte. —
Lassen wir nunmehr die Dichter und wenden uns
Männern zu, die ohne ]eäe Nebenabsicht, ohne allen poetischen
Aufputz, einfach ihre Lebenserinnerungen niederschrieben
, Männern aus der Napoleonischen Kriegszeit, die
bei ihrer langen Dauer, ihren zahllosen Menschenopfern
naturgemäß an Beispielen für die geheimnisvolle Erscheinung
des Hellsehens nicht arm sein konnte. Da ist zunächst
der biedere Sergeant Bourgogne, der in seinen Denkwürdigkeiten
aus dem russischen Feldzug von 1812, den er vom
Anfang bis zu Ende mitmachte, mehrere solcher Fälle,
gleichsam nebensächlich und ohne etwas Merkwürdiges
darin zu sehen, berichtet. So äußert zu ihm sein Kamerad
Beloque, mit dem er nachts in dem eroberten Smolensk
zusammentrifft, ganz unvermittelt beim Anblick zweier auf
dem Schnee liegender Toter: „Paß auf, in einigen Tagen
werde auch ich sterben, gerade so, wie diese armen Menschen
da." — „Nun wohl," fährt er nach kurzem Schweigen
fort, „Gottes Wille geschehe! Wenn man nur hier nicht
gar so viel leiden müßte, ehe der Tod kommt." Einige
Seiten später erzählt dann Bourgogne: „Unter den ersten,
die gleich im Anfang unseres Vorrückens fielen, befand
sich übrigens auch Beloque. Er erhielt einen Schuß durch
Kopf und war auf der Stelle tot." Ähnliches ereignete sich
später mit dem Italiener Faloppa, der den Erzähler auf
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