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Wichmann: Hellsehen vor der Schlacht. 637
mitten durchs Herz gerannt. Die Waffe steckt noch in der
Wunde, als der Erzähler, der selbst mitgeritten, die Leiche
findet; bis in die kleinsten Einzelheiten hat sich also hier
das Hellsehen bewahrheitet. —
Will man das hier Erzählte als Zufall betrachten, so
muß man wohl oder übel glauben, daß dieser Wunder tun
könne; man gerät damit in einen circulus vitiosus, der nur
die Wahl läßt, an die eine Ubernatürlichkeit oder an die
andere zu glauben.
In das große Gebiet der Vorahnungen, zu denen dieses
„zweite*, sich selber in der Zukunft erblickende Gesicht
gehört, mögen Träume, optische Täuschungen, Kurzsichtigkeit
, Somnambulismus, Volkssage, poetische Symbolik und
was man sonst noch will, hineinspielen, aber restlos erklären
läßt es sich nicht. Es sind da Elemente aus einer anderen
Welt in die der unseren hineingemischt, ohne daß wir sie
sehen und begreifen, ohne daß wir ihre Grenzen bestimmen
können. Was wir bisher von allem in der Welt am wenigsten
erforscht haben, ist ja unser Inneres, zumal in seinen
Beziehungen zur Außenwelt. Eine Zeit wunderbarster
technischer Erfindungen und Entdeckungen scheint uns
nahe an da«* Ziel einer Erschließung des gesamten Weltalls
gebracht zu haben, soweit dieses sich in unsere Begriffe
von Raum und Zeit fügt.* Uber letztere hinaus und außerhalb
unseres Vorstellungsvormögens aber muß noch etwas
Unbegreifliches liegen, weder Vergangenes, noch Kommendes
, sondern eine Art ewiger Gegenwart, in die der Sterbliche
in visionären Momenten bisweilen einen Blick tut.
Doch nur der Ausnahmsmensch, der „Seher der Nacht",
wie ihn Annette von Droste-Hülshoff nennt. Für uns.
andere bleibt trotz allem stolzen Wissen immerdar un-
erforschlich, was auch nur die nächste Stunde bringt. Nur
mit tastendem Raten stehen wir vor den Toren eines Geheimnisses
, das mit undurchdringlich schweren Falten der
Schleier der Zukunft überwallt. Ihr gegenüber bleiben wir
die ewig Blinden, und es mag gut und zur Erhaltung
unseres Lebens nötig sein, daß uns hier niemals des
„Lichtes Himmelfackel" geliehen wird. Sonst müßte für
uns alle der westfälischen Dichterin mitleidsvolles Wort
gelten:
„O, sprich ein Gebet, inbrünstig, echt,
Für die Seher der Nacht, das gequälte Geschlecht."
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