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Kaschig: Schlaf, Träume und Bewußtsein.
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Schlaf, Träume und Bewußtsein.
Von E. Raschig, Lehrer in Neustädte! (Erzgebirge).
(Schluß von Seite 603.)
Der vegetative Prozeß, der während des ganzen Tages,
also durchschnittlich 16 Stunden, unter dem Dominieren
des psychischen Prozesses der Geistesarbeit oder nicht zum
mindesten durch den Kräfteverbrauch und die Ermüdung
der Muskeln seitens körperlicher Anstrengung Zwang
gelitten hat, braucht naturnotwendig eine Zeit
des Ubergewichts, wo er nach allen oben erwähnten
Seiten der Säfte- und Kräfteverhältnisse normale Verhältnisse
wieder herstellen kann, wo das vegetative Gleichgewicht
wieder hergestellt wird. Handelt es sich dabei nun nur
um die alltägliche Ermüdung der Muskeln von der Körperarbeit
oder auch um reguläre Ermüdung der Seele von der
Geistesarbeit her ohne Uberreizung, so ruht dabei
auch das Denken, die Vorstellungsbildung, es ist ein
traumloser Schlaf, in welchem nur die „Ermüdungsgifte
* weggeschafft und den Muskeln sowie der Psyche neue
Kräfte für die Arbeiten des folgenden Tages zugeführt
werden. In solchem Schlaf zustande fehlt jedes
Zeitmaß für die Seele, so daß das gesunde Kind oder
der gesunde Mann oft beim" Erwachen den Gedanken haben
kann, er habe sich doch soeben erst niedergelegt und sei
soeben erst eingeschlafen. Aber wo ist während dem das
Bewußtsein? Meumann sagt hierzu*): „Interessanter als
diese individuellen Unterschiede ist zunächst die allgemeine
Frage, ob es wirklich — etwa in den ersten Stunden der
Nacht — einen Zustand des Seelenlebens gibt, in welchem
das Bewußtsein völlig darniederliegt, und ob in diesem
Zustande sowohl alle Träume, wie überhaupt jede Art von
Bewußtseinstätigkeit * aussetzen. Die meisten neueren Psychologen
lehnen die Annahme eines unbewußten Seelenlebens
als eine „unbewiesene Hypothese* ab.*
Meumann nimmt aber seinerseits an, daß „das Bewußtsein
niemals aussetzt*, was durch Experimente des italienischen
Physiologen Mosso und andere wahrscheinlich gemacht
wird. — Das ist auch ganz sicher, und es ist meines Erachtens
dazu gar keine „Hypothese* erforderlich. Solange
die Psyche von den Sinnesnerven aus garnicht gereizt und
durch den ungestörten Verlauf des vegetativen Prozesses
auch von innen heraus in keiner Weise beunruhigt wird,
*) „Umschau*, 1908, Nr. 21, S. 403
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