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Anwand: Bei der Trancezeichnerin.
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sagt ist, und aus dem Quell der Mystik zu schöpfen. Er
bietet dann mit priesterlicher Miene — eine hohle isTuß, so
daß der Empfänger kaum das Lachen verbergen kann.
Da es sich also um eine Erscheinung allgemeinerer Art
handelt, ist es vielleicht interessant, einen Besuch bei einer
Trancezeichnerin zu schildern, deren Einladung mir vor
kurzem zuging. Ich weiß freilich schon nicht, ob ich mit
dem Worte „Trancezeichnerin" das Richtige treffe, da mir
auf diesem Gebiete die feineren Unterschiede nicht geläufig
sind. Jedenfalls betonte die alte Dame immer wieder, daß
sie von Geisterstimmen zum Zeichnen aufgefordert und daß
ihr gleichsam die Hand geführt würde. Ebenso hob sie
hervor, 3ie führe die Zeichnungen ohne Willen aus, sei dagegen
im Alltagszustande eine schlechte Künstlerin, was ich
ihr auch auf Grund ihrer Trance - Zeichnungen aufs Haar
glaube. Interessant war mir ferner ihre Mitteilung, daß es
immer eine Männerstimme sei, die sie zum Zeichnen auffordere
, weil man daraus die Zuversicht schöpfen kann:
auch im Geisterreiche findet Grete ihren Hans.
Noch einmal: ich bin sehr weit davon entfernt, den
Einfluß des Unbewußten und Traumwandlerischen auf den
Menschen, und besonders auf den Künstler, zu leugnen.
Goetbe's Wort, daß sich in den Werken eines Shakespeare,
Mozart usw. etwas Göttliches offenbare und niemand mit
nur menschlichen Kräften Ähnliches vollbringen könne, behält
sein tiefes Recht. Ich halte auch ein Trance-Zeichnen
nicht für unmöglich. Mir selbst sind derartige Arbeiten zu
Gesicht gekommen, die etwas Seltsam - Mystisches hatten,
als besinne sich eine Seele auf Formen von Tieren und
Pflanzen, die sie vor Jahrtausenden gesehen haben mag,
ähnlich wie die menschliche Frucht im Mutterleibe die Entwicklung
vom niederen Lebewesen über das Tier hinweg
bis zum Menschen zurückzulegen scheint. Ebenso würde
ich gern ein künstlerisches Saatkorn im dunklen Erdreich
des Unbewußten tastend keimen sehen, es freudig aus dem
Drum und Dran befreien und als Goldkorn ans Licht
heben. Aber wo war hier eine Leistung von mehr Wert,
als sie die wahllosen Versuche jedes Alltagsmenschen ohne
Zeichenkenntnis besitzen! Ja, wo war das Unbewußte und
Willenlose ?
Die Blätter, von denen die Trancezeichnerin eine große
Anzahl zeigte, weisen nämlich zwei klare, voneinander getrennte
Entwickelungsphasen auf. Zunächst läßt sie mit dem
Bleistift pflanzen- und arabeskenhafte Muster entstehen,
wobei das Blatt gewöhnlich gebrochen und mit Durchschlagspapier
versehen ist, so daß sich ein symmetrisches,
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