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42 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 1. Heft. (Januar 1914.)
schlechten Motive lassen sich fast ganz beseitigen oder,
wo das nicht möglich ist, überwinden, wenn nicht sofort,
so doch mit der Zeit und durch Anwendung geeigneter
Mittel. Zwar muß man zugeben, daß der Mensch trotz der
schlechten Motive, die ihm Welt und Mitmenschen bieten,
das Gute allein um des Guten willen tun kann; damit ist jedoch
nicht die Verpflichtung aufgehoben, daß die schlechten
Anlässe zu entfernen sind, zumal sie für die meisten Menschen
der Grund zum bösen Handeln bind. Gerade darin,
daß die Handlung des Menschen das notwendige Produkt
seines Charakters und der auf ihn einwirkenden Motive ist,
ist uns ein Mittel und zugleich die Pflicht gegeben, auf
den Menschen einzuwirken.
Das Sittengesetz verlangt von uns auch, daß wir andern
kein Motiv zum Bösen geben, denn dann würden wir an
dem Verderben des Nächsten mitschuldig sein. Unser
Streben muß darauf zielen, die schlechten Motive aufzufinden
und sie, wenn es in unserer oder der Menschheit
Macht liegt, zu entfernen. Wie stellen wir uns bei diesen
Ergebnissen zur Verantwortlichkeit des Menschen ? Strafe
und Lohn als \ eigeltung für die Handlungen zu setzen,
ist nicht zulä^ig, wohl aber, sie als Erziehungsmittel und
Motive zum Guten anzuwenden. Nach unsern Voraussetzungen
kann eine Handlung des Menschen nur dann frei
genannt werden, wenn sie nach den Gesetzen der Moral
geschieht. Hat das Individuum diese Freiheit noch nicht
erlangt, so darf es auch nicht aus der Zucht entlassen
werden; mißbraucht es die ihm gegebene Freiheit, so muß
sie ihm wieder genommen werden.
Wenden wir uns jetzt der Behauptung zu, die besagt,
der Mensch handle nach Willkür. Man beruft sich zum
Beweise hierfür auf das Freiheitsgefühl. Daß das Freiheitsgefühl
die Willkür nicht bezeugen kann, ist schon oben
dargelegt. Dem Menschen ist die Freiheit gelassen, sich
für eine von zwei oder mehreren Handlungen entscheiden
zu können; hierin beruht seine Freiheit und der Unterschied
, der zwischen seinem Handeln und dem blinden,
notwendigen Geschehen in der Natur bestellt. Wie er sich
aber entscheidet, ist damit noch nicht ausgemacht. Die
Willkür geht aber nicht auf die Möglichkeit, sich für eine
von mehreren Handlungen entscheiden zu können, sondern
auf die Entscheidung selbst; mit andern Worten, nach der
Theorie der Willkür entscheidet einzig und allein die Wahl
des Willens, aber nicht Charakter und Motive. Allein vorausgesetzt
, Willkür sei bewiesen, was würden sich daraus
für Konsequenzen ergeben! Mit der Willkür ist das Recht
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