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Hänig: Zur Methode der Transzendentalforschung. 98
keinen Grund, diese ganze Erscheinung anders als natürlich,
d. h. durch Kryptomnesie zu erklären.
Es ist von vornherein ersichtlich, daß hier alles auf die
Frage ankommt: mußte diese Kausalkette auch wirklich
eintreten oder war das wenigstens als wahrscheinlich zu
erwarten? Mußte also das unter 2. angeführte Bild als
typisch sich mit der unter 1. angeführten Besorgnis verbinden
oder war das wenigstens wahrscheinlich? Ist es
also, allgemeiner gesprochen, von vornherein sicher oder
wahrscheinlich (natürlich von dem bisher Wahrgenommenen
zu entscheiden), daß ein im Unterbewußtsein latentes, für
einen bestimmten Fall typisches Beispiel genötigt wird, über
die Schwelle des Bewußtseins zu treten, wenn eine ähnliche
Vorstellung bezw. ein Affekt in das Unterbewußstsein eintritt
? Natürlich eventuell nicht sofort, sondern auch später
noch, wenn etwa die Umstände dazu besonders günstig waren ?
Ist dieser Fall nach den bisherigen Forschungen auf
dem Gebiete des Unterbewußtseins von vornherein sicher
oder wahrscheinlich, so mußte also erwartet werden
, daß das unter 2. angeführte Bild einmal
über die Schwelle des Bewußtseins der
Betreffenden trat, wenn sich die Nebenumstände
unterdessen nicht veränderten; wir haben also keinen Grund,
jenen wirklich eingetretenen Fall für etwas anderes als die
Erfüllung jener theoretisch geforderten Möglichkeit anzusehen
, in dem einen Falle natürlich mit voller Sicherheit,
in dem anderen nur mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit
. Die ganze Frage ist also in diesem Falle eine rein
psychologische: kann die Psychologie jene allgemeine Frage
nach ihren bisherigen Erfahrungen mit Sicherheit oder
Wahrscheinlichkeit bejahen, so ist auch die Erklärung des
ganzen Falles mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit im
Gebiete des Normalen, also ohne Annahme von etwas
Transzendentem zu suchen; gelingt das nicht, so ist eine
Entscheidung in diesem Falle nicht zu treffen, bezw. das
Transzendente doch zu einer Erklärung heranzuziehen, wenn
nämlich jene allgemeine Frage von der Psychologie mit
großer Wahrscheinlichkeit verneint werden muß *)
Einfacher ist der an dritter Stelle angeführte Fall, der
vom wissenschaftlichen Standpunkte natürlich als Kryptomnesie
erklärt werden muß, während ihn die Verwandten
*) Noch klarer läge freilich der Fall, wenn die Betreffende
jeden MorgeD (etwa unter dem Eindrucke des durch das Fenster
fallenden Sonnenscheins) zu der bestimmten Stunde dieselbe oder
eine ähnliche Vision gehabt hätte; aber dieser Fall wird naturgemäß
sehr selten sein.
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