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202 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1914.)
die ganze Geschichte über den Haufen wirft/ und zu
meiner in diesem Augenblick in das Zimmer tretenden
Mutter gewendet, fuhr ich fort: „Weißt du, Mama, wenn
die Lampenglocke dann in Scherben geht, dann mußt du
schnell die Scherben herunternehmen, damit die Flamme
nicht ausgeht und das Gas vielleicht ausströmt und später
explodiert/ — Meine Geschwister und meine Mutter sahen
mich erstaunt an und brachen dann in ein unauslöschliches
Gelächter aus. Was ich da gesagt hatte, war ja eine pure
Unmöglichkeit, und meine Mutter und meine Geschwister
überboten sich darin, sich darzutun, wie furchtbar einfältig
das Gesagte war; denn wie sich einer von ihnen auch
drehte und wendete, der Tisch war so breit und lang, daß
man unmöglich mit dem Kopfe an die ziemlich hoch über
der Mitte hängenden Gasglocke rühren konnte.
Und wenige Tage später geschah das als so unmöglich
Hingestellte: Wir Kinder saßen des Abends in unserem
Zimmer um den Tisch, meine ältere Schwester war mit
einer Handarbeit beschäftigt, sie wollte wahrscheinlich
einen Stich vergleichen oder einen Fehler ausbessern —
kurzum: sie erhob sieh von ihrem Platze, kam der Glasglocke
, um ihre Arbeit genau zu sehen, immer näher und
näher, — wie sie es angefangen l\at, konnte sie üiemals erklären
und weiß ich auch bis zur Stunde nicht, denn sie
muß rein equilibristische Kunststücke dabei fertiggebracht
haben, um das zu erreichen, was nun folgte. Sie stieß mit
dem Kopf gegen die Lampenglocke, diese hob sich aus
dem Messingreifen, schlug zurück, ging in Trümmer, von
denen die Hälfte auf den Tisch fiel, die andere Hälfte sich
über die Flamme legte — und in diesem Augenblick
öffnete meine Mutier die Zimmertüre, übersah mit einem
Blick die Situation, lief auf den Tisch zu, stieg auf einen
Stuhl, erfaßte mit ihrer Schürze den heißen Scherben der
zertrümmerten Glocke und hob ihn herunter. Wir alle
natürlich waren vom ersten Schreck wie gelähmt und dann
sagte ich triumphierend: „Seht ihr, ich hab's doch gleich
gesagt, so wird's mal kommen !* Jetzt sahen mich meine
Geschwister, dessen entsinne ich mich noch genau, teils mit
Staunen an, teils erklärten sie das Ganze für einen Zufall,
— aber ausgelacht wurde ich nicht mehr. —
Der zweite der Fälle, die ich erzählen will, ereignete
sich eine ganze Zeit später. Wir wohnten in Berlin am
Kronprinzenufer, jener Straße, die sich am linken Ufer der
Spree entlang zieht, gegenüber der massigen Front des
Lehrter Bahnhofs und dem Gelände, auf welchem sich jetzt
das aus Glas und Eisen errichtete Kunstausstellungsgebäude
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