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Geratmann: Zum Kapitel vom Fernsehen und Voraussehen.
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erhebt. Damals, es war im Jahre 1881, war von diesem
massiven Bau noch keine Rede, sondern es wurde eine
große Anzahl von Fachwerkgebäuden, Hallen, Pavillons
usw. dort errichtet; sollte doch auf eben diesem Platze, auf
dem einige Jahre vorher die große Berliner Gewerbe-
austellung veranstaltet worden war, die erste deutsche
Hygiene - Ausstellung, die unter dem Protektorate des
Kronprinzen Friedrich Wilhelm, nachmaligen Kaisers
Friedrich, stand, ins Leben treten. Groß war die Beteiligung
von Ausstellern und Interessenten aller Art, und
noch größer war das Interesse, mit dem allseitig der Eröffnung
der Ausstellung entgegengesehen wurde. Und die
Gebäude wuchsen, die Hallen und Pavillons wurden mit
den Ausstellungsgegenständen angefüllt, die gärtnerischen
Anlagen waren vollendet, die Musikhallen und die Restaurants
vollständig gebrauchsfertig hergestellt und die letzte
Hand wurde angelegt, um dem großen schönen Werke den
Glanz der Verkommenheit zugeben. Der Eröffnung*-
termin war bestimmt. Die Einladungen waren versandt
und auf den verschiedenen Gebäuden wurden schon probeweise
die Fahnen aufgezogen, die während der ganzen Zeit
der Ausstellung lustig im Winde flattern sollten. Da stand
ich eines Nachmittags am Fenster unseres Wohnzimmers,
blickte über die langsam dahinflutende Spree auf das Aus-
stellungs - Terrain und sagte halblaut vor mich hin: „Gibt
das ein Feuer! Das ist ja nicht auszudenken!4' Meine
Mutter, die im Zimmer war und diese Worte gehört hatte,
trat zu mir und sagte: fWas meinst du denn?* Da sagte
ich, ohne den Blick von dem Ausstellungs - Terrain abwenden
zu können: „Sieh' mal, das brennt ja alles nieder!",
und ich sah in vollkommener Deutlichkeit gewaltige
Flammen von den Pavillons und den Hallen aufsteigen,
Flammen, die, genährt durch die chemischen Produkte, die
hier in der Ausstellung aufgestapelt waren, in allen möglichen
Farben leuchteten, und ich sah den graugelben,
schwelenden Dampf in gewaltiger Stärke aufsteigen, und
ich sah, wie die eben noch im Winde flatternden Fahnen
eingehüllt wurden von diesen massigen Rauchsäulen, — und
dann hörte ich meine Mutter sagen: „Was dir doch einfällt
! Dafür wird schon Vorsorge getroffen sein, daß
Derartiges nicht passiert.* Ich erinnere mich genau, daß
durch diese Zwischenbemerkung der Bann bei mir wie gelöst
war. Ich sah nur noch die ragenden Ausstellungsräume
von der Nachmittagssonne freundlich beleuchtet.
Und wenige Tage später war die Hygiene-Ausstellung, wie
man sich erinnern wird, ein Raub der Flammen geworden.
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