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206 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 4. Heft. (April 1914.)
Als ich die Tür öffnete, war ich sehr erstaunt: die Rollläden
an den Fenstern waren heruntergelassen, das Zimmer
war dunkel und von der ganzen Gesellschaft, die ich eben
hier noch versammelt gesehen hatte, nichts vorhanden. Ich
konnte mir das absolut nicht erklären und ging in das
Speisezimmer, wo die Meinigen bereits beim Abendessen
um den Tisch versammelt waren. Nach kurzer Begrüßung
fragte ich: „Wo ist denn der Onkel Heinrich?*, und wie
sie mich erstaunt ansahen und die Frage sich gar nicht
erklären konnten, fügte ich hinzu: „Na, ich habe ihn doch
eben deutlich gesehen. Er saß mit euch im Salon, also hat
er sich wahrscheinlich doch, als er mich kommen hörte,
versteckt, um mich zu überraschen; aber ich weiß ja doch
schon, daß er da ist." Die Meinigen protestierten auf das
lebhafteste, und ich erkannte auch an der ganz un~
gezwuogenen und natürlichen Art, wie sie eben beim Essen
saßen, daß hier von etwas Gekünsteltem oder Verabredetem
nicht die Rede sein konnte. Ich ließ es mir, so oft im
Laufe des Abends auch die Sprache darauf kam, nicht
ausreden, daß ich das, was ich geschildert, deutlich gesehen
habe, fand aber ebensowenig wie meine Familie irgendeine
Erklärung dafür, und so ließen wir das Thema fallen.
Am anderen Morgen kam mit der ersten Post aus
Breslau ein Brief in einem den Firmenaufdruck tragenden
Geschäftskuvert; er brachte von meinem Onkel die Nachricht
, daß er am nächsten Tage, also heute, geschäftlich
für einen Tag nach Berlin komme, daß es ihm aber erst
am Abend möglich sein werde, uns zu besuchen, und daß
wir nur für den Fall, daß wir über den Abend anders
disponiert hätten, ihm eine Nachricht in den „Kaiserhofg,
wo er absteigen würde, zukommen lassen sollten. Meine
Mutter und meine Geschwister waren gleich mir aufs
äußerste frappiert, daß ich diesen ganz unerwarteten und
gar nicht zu erwartenden Besuch in gewissem Sinne vorher
geahnt hätte, zumal ich ihnen auch von dem Brief,
den ich in der Redaktion vor mir gesehen und dann nicht
wieder gefunden hatte, Mitteilung gemacht hatte. Und als
ich am Abend dieses Tages aus der Redaktion nach Hause
kam, waren wie gewöhnlich die Rolljalousien an den
Vorderzimmern herabgelassen, das Haus lag im Dunkel.
Ich betrat die Wohnung, legte meine Sachen ab, öffnete
die Tür zum Salon, aus dem ich Stimmen hörte, und sah
nun genau das Bild, das ich vierundzwanzig Stunden vorher
erblickt hatte. Auf dem Sofa am Tisch saß meine
Mutter, meine Geschwister im Kreise herum, und auf dem
mit der Rücklehne dem Fenster zugewandten Sessel saß
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