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Kaindl: Zur Frage der Keinkarnatioo. 219
Angeblich soll es auch Kinder geben, die sich an ein
früheres Dasein erinnern. Die Richtigkeit dieser Behauptung
vorausgesetzt, würde man vorerst die Möglichkeit zu
erwägen haben, daß derartige Vorstellungen des Kindes
durch gewisse die Rei'nkarnation betreffende Gedanken,
welche die Mutter während ihrer Schwangerschaft hegte,
verursacht worden sind. Davis behauptet, daß die Überzeugung
Jesu Christi von seiner göttlichen Sendung, welche
für seinen ganzen Lebenslauf und dessen Ausgang bestimmend
wurde, eine Folge des tiefen Eindruckes war,
den die zurzeit bei den Juden herrschende Messiasidee auf
das hierfür empfängliche Gemüt seiner Mutter im Zustande
ihrer Schwangerschaft ausübte.
Wenn die Anhänger der Rei'nkarnationslehre behaupten,
daß durch eine stete Wiederverkörperung eine Tilgung der
Schuld und damit eine allgemeine sittliche Läuterung bezweckt
werde, so wird man angesichts des kontinuierlichen
moralischen Rückschrittes der Menschheit und der Tatsache
, daß der zivilisierte Teil derselben moralisch viel
tiefer steht, als der unzivilisierte oder selbst das Tier,
nolens volens zugeben müssen, daß, wofern ein solches
Sühngesetz überhaupt besteht, es sich, wenigstens beim
zivilisierten Menschen, als gänzlich wirkungslos erweist und
somit seine Bestimmung nicht erfüllt.
Der korrumpierende Einfluß der europäischen Kultur
wird allerdings von den Vertretern dieser Lehre nicht bestritten
, ja es wird sogar zugegeben, daß ein Mensch,
wenn er nicht schon als geistiger Krüppel geboren ist,
durch die Materialität der Sinnenwelt und durch die
äußeren Denkgewohnheiten der westlichen Kultur leicht zu
einem solchen werden kann; aber eben deshalb wird man
sich auch fragen müssen, was mit der Unzahl Wiedergeburten
in diese Afterkultur hinein bezweckt werden soll,
wenn seelische und geistige Verkrüppelung das wahrscheinliche
Resultat ist. Anderseits wird uns gesagt, daß
eine Fortentwickelung in einem seelisch - geistigen Leben
nach dem Tode undenkbar sei, da sie nur durch Überwindung
von Widerständen, wie sie das irdische Leben
darbietet, zu erzielen sei.
Zu solchen Widersprüchen gelangt man, wenn man sich
der einfachen Wahrheit verschließt, daß der Mensch zur
Entfaltung seines inneren Wesens ebenso gut angemessener
Entwickelungsbedingungen bedarf, wie irgend eine Pflanze,
und daß, wofern er sie nicht findet, auch alle möglichen
Wiedergeburten ihn darin nicht fördern werden. Die
Widerstände, denen wir in dieser Welt begegnen, sind zu-
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