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Kaindl: Zur Frage der Kei'nkarnation.
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fallen ist und sich dadurch in die Lage versetzt sieht,
immer neue Schulden zu machen, um alte damit zu tilgen.
Während von Anhängern der Reinkarnationslehre das
Vergessen der vorhergehenden Existenzen des Erdendaseins
als notwendig und gerechtfertigt hingestellt wird, als unvereinbar
mit der individuellen Entwickelung unseres Gehirns
, indem die Erinnerung daran nur ein Hindernis für
unseren moralischen Fortschritt bilden und Anlaß geben
würde zu Feindschaften unter den Menschen, zu Haß,
Eifersucht und Konflikten aller Art, ist Prof. James H.
Hyslop genau der entgegengesetzten Ansicht und vertritt
sie in seinem Artikel ^Eeinkarnation und psychische Forschung
**) (Juliheft, Nr. 7, 1911 des „Journals der A. S. f.
Ps. R.*) mit folgenden Worten:
„Es scheint mir, daß die Ethik dieser Lehre der Grundforderung
ermangele, ohne die kein derartiges System bestehen
kann, nämlich der Erhaltung des Gedächtnisses.
Die Reinkarnation mit ihrem supponierten Corollarium, der
Präexistenz, betrachtet das Gedächtnis als keinen wesentlichen
Bestandteil der verantwortlichen Persönlichkeit. Mir
erscheint es als solche**; auch glaube ich, daß es ohne Kontinuität
des Gedächtnisses keine moralische Verantwortlichkeit
geben kann. Die einzigen Analogien, welche wir im
gegenwärtigen Leben zugunsten der Reinkarnationslehre
geltend machen können, finden wir in Fällen von Persönlichkeitsverdoppelung
. Wir übertragen niemals die Verantwortlichkeit
der normalen Persönlichkeit auf die anor-
riale. Die Festellung, daß gewisse Handlungen in einem
abnormen Zustand ausgeführt wurden, besonders wenn
zwischen beiden Zuständen keine mnemonische Verbindung
besteht, befreit die anormale Persönlichkeit von jeder Verantwortlichkeit
. Es wird damit nicht das Recht der Gesellschaft
aufgehoben, Maßregeln des Schutzes ^ und der
Vorbeugung zu ergreifen; aber die Verantwortlichkeit ist
beseitigt und damit alle exekutiven Maßnahmen. Unser
ganzes System der Ethik ist nach dieser Idee entwickelt,
und eine Reinkarnationslehre wird die Ethik aus ihrer
Weltanschauung verbannen müssen, wenn sie in Anwendung
kommen soll.
Was mich betrifft, so halte ich die Reinkarnationslehre
in der Form, in der man sie gewöhnlich verficht und in
welcher sie sowohl die Wiederverkörperung der Seele in
irgend einen Zukunftsorganismus, als durch Präexistenz in
sich schließt, weder für eine zur Erklärung irgend welcher
*) S. „fctudieD der D. G. f p. F.*, II. u. III. Band.
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