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Kaindl: Zur Frage der Bei'nkarnation.
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weh nach einem alten verlassenen Lande, sondern nach einem
unbetretenen, nicht nach einer Vergangenheit, sondern nach
einer Zukunft. Dieses Heimweh, das sie für zartere Seelen
in alle ihre anderen Wirkungen der Entzückung, wie der
Trauer mischt und das eben aus ihr alle unmoralischen
als Mißtöne und alles Unreine ausschließt, drückt sich aus
durch den Seufzer, den sowohl der Glückliche, als der
Traurige ohne Eücksicht auf eine Vergangenheit, aber voll
einer unaussprechlichen Zukunft bei den Tönen holt.* —
Wer das „ Erdenheimweh44 als Erklärungsgrund der
Inklination zum Reinkarnationsglauben durch einen konkreteren
Begriff zu ersetzen wünscht, wird sich im allgemeinen
kaum eines Irrtums schuldig machen, wenn er
sich unter diesem den Trieb jener Seele denkt, die „in
derber Liebeslust an diese Welt sich hängt mit klammernden
Organen14, und jener anderen Seele Drang, „die zu
den Gefilden hoher Ahnen sich erheben möchte", auf spätere
, äonenferne Zeit vertröstet. —
Betrachtet man die Erde als eine Leidensschule, d. h.
als einen Ort, der die Bestimmung hat, die Menschenseele
durch Leiden zu läutern und zu vervollkommnen, so kann
man sich kaum eine trostlosere Perspektive denken, als
jene, sie, ohne einen Hoffnungsschimmer auf ein besseres,
unserer inneren Natur mehr angemessenes Dasein, immer
wieder aufs neue betreten zu müssen.
„Leiden,* sagt Jean Paul treffend, „werden unerträglich
düster, wenn man ihnen das Licht einer anderen Welt entzieht,
gleichwie auch sonst glänzende Wolken in der Nacht die
schwarze Farbe von Regen und Gewitterwolken annehmen.11
Der erzieherische Wert der Leiden wird überdies mehr
als problematisch, wenn man bedenkt, daß sie gerade jene
am schärfsten treffen, welchen sie infolge ihrer verfeinerten
Organisation weit mehr schaden als nützen; denn es ist
nur allzu wahr, daß, wie Jean Paul sagt, unsere glücklichen
Mitmenschen zu leiden beginnen, wenn sie sich aus ihrer
Klasse erheben, und daß die längsten und schärfsten
Schmerzen nur in der edlen Seele wohnen und daß ihnen das
Leben seine Freuden nur unter Schleiern und Dämpfern
gibt, wogegen sie die Leiden unverschleiert und ungedämpft
empfangen.
Die Verehrer der Rei'nkarnationsdoktrin, welche die
Erde als eine Leidensschule betrachten, glauben wohl nicht
an die Möglichkeit, daß der Effekt von Leid und Mißgeschick
auch negativer Art sein kann, welche psychologische
, in der Menschennatur tief begründete Wahrheit uns
Lenau's „Mephisto* in folgenden Worten verkündet:
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