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Antrittsrede yon Prof. Dr. Heinrich Bergson. 261
vorläge? ... Sie müssen aber dabei nicht außer Acht
lassen, daß es doch ungemein häufig vorkommt, daß eine
Frau träumt, ihr Mann sei gestorben oder liege im Sterben,
während er sich in Wirklichkeit ganz wohl befindet. Trifft
ein solches Gesicht aber einmal zu, so wird der Fall sofort
als etwas Seltsames, als ein Beleg notiert und anderen
Fällen zugesellt; aber die vielen, vielen Fälle, die dagegen
nicht eintreffen, werden einfach ganz der Vergessenheit anheimgegeben
. Zieht man den Schluß, so wird man erkennen
, daß es sich dabei bloß um ein zufälliges Zusammentreffen
handelt, daß es bloß das Werk des Zufalls ist.*
Das Gespräch wandte sich bald einem anderen Thema
zu; die Frage in wissenschaftlicher Weise zu behandeln und
eine ernsthafte Erörterung darüber sich entspinnen zu
lassen, dafür war weder der geeignete Platz, noch der
richtige Zeitpunkt gegeben. Als wir uns vom Tische erhoben
, sagte mir ein kaum den Kinderschuhen entwachsenes
junges Fräulein: „Na, da hat aber meiner Meinung nach
Herr Prof. X. heute Abend eine Behauptung aufgestellt,
die mir durchaus falsch erscheint, wenn ich auch nicht in
der Lage bin, sofort einzusehen, worin der Fehler in seiner
Behauptung liegt."
Allerdings wies iene Ansicht des Herrn Professors
einen grobenSehler Li! Das kleine Fräulein hatte recht,
und die Behauptung des großen Gelehrten war durchaus
falsch. Er schloß in Verblendung die Augen vor der nicht
mehr hin wegzuleugnenden Tatsache, daß jene Erscheinung
ein Konkretum ist. Er gab folgendes Urteil ab: „Wenn
man träumt, ein Verwandter liege im Sterben, so ist dies
entweder richtig oder nicht richtig, die Person stirbt dann
entweder wirklich oder sie stirbt nicht. Und infolgedessen
müßte man, wenn der Traum zutrifft, um sicher zu sein,
daß man es nicht bloß mit einem Spiel zu tun habe, die
Zahl derjenigen Fälle, wo es zugetroffen ist, mit der Zahl
derjenigen in Vergleich ziehen, wo es nicht eingetroffen
ist." Er hatte nicht das Einsehen, daß die augenscheinliche
Stärke seiner Argumentation darauf zielte, die Beschreibung
der konkreten und lebenden Szene — des in
einem bestimmten Momente, an einem bestimmten Orte
unter diesen oder jenen Soldaten fallenden Offiziers — durch
diese abstrakte und tote Formel ersetzt zu haben: was die
Dame träumte, war richtig und nicht etwa falsch. O wenn
wir diese Uberführung ins Abstrakte annehmen, so wäre
es in der Tat nötig, die Zahl der wahren Fälle mit der
Zahl der falschen in abstracto in Vergleich zu ziehen, und
wir würden vielleicht gewahr werden, daß es mehr falsche
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