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Antrittsrede von Prof. Dr. Heinrich Bergson. 268
führen: „Ich weiß nicht, ob der Ihrerseits abgestattete Bericht
auch vollständig zuverlässig ist; ebenso wenig weiß
ich, ob die Ihrerseits erwähnte Dame auch wirklich ganz
genau jene Szene in allen Einzelheiten vor sich sah, die
sich in so großer Entfernung abspielte. Sollte mir jedoch
dieser Punkt bewiesen werden, so daß ich vollends sicher
sein könnte, daß die Physiognomie eines ihr unbekannten
Soldaten, der an der Szene teilnahm, ihr derartig erschienen
sei, wie sie in der Tat war, dann allerdings würde ich,
selbst wenn mir bewiesen würde, daß es tausende von
falschen Gesichten gäbe und niemals von einer wahrhaften
Halluzination etwas berichtet worden wäre, als diese einzige
, das Vorhandensein der Telepathie für durchaus ein-
windfrei bewiesen erachten, bezw^ einer Ursache, welche
sie auch sein möge, die uns Gegenstände und Ereignisse
außerhalb unserer gewöhnlichen Sinneswahrnehmung zum
Bewußtsein gelangen lassen würde.*
Doch genug davon! Nunmehr möchte ich der Frage
nähertreten, welche tiefe Ursache zugrunde liegt, warum
die psychische Forschung bisher so sehr von den Gelehrten
vernachlässigt wurde, die fast ausschließlich anderen Gebieten
ihre Aufmerksamkeit zuwenden.
Oftmals hörte ich \on Personen, die ein reges Interesse
für Ihre Arbeiten bekundeten, daß sie darüber höchlichst
erstaunt wären, daß die heutige Wissenschaft jene
Tatsachen so lange vernachlässigt hätte. Denn gerade infolge
ihres experimentellen Charakters sollte sich die
Wissenschaft eben jenen Tatsachen zuwenden, die eine
große Menge von neuen Erfahrungen zutage fördern
würden. Doch muß man sich zunächst mal darüber klar
sein, was man denn eigentlich unter experimentellem Charakter
der heutigen Wissenschaft zu verstehen hat. Daß
die heutige Wissenschaft die Experimentalmethode geschaffen
hat, das ist allerdings wahr; aber das will noch
lange nicht bedeuten, daß sie das Gebiet der schon lange
vor ihr bestehenden Experimente erweitert hat. Gerade im
Gegenteil, sie hat es eingeengt. Und darin übrigens besteht
ihre Stärke. Wenn wir die Schriften der klassischen
Alten lesen, so sind wir geradezu erstaunt darüber, wie viel
sie beobachtet und wie viel sie auch selbst experimentiert
haben. Allein sie beobachteten sozusagen aufs Geratewohl,
ohne ihren Versuchen eine bestimmte Richtung zu verleihen
.
Worin bestand denn nun die Schöpfung der experimentellen
Methode? Einfach darin, daß man Beobachtungen
und Experimentations-Vorgänge, die schon bestanden,
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