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264 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1914.)
aufgreift und sie, statt auf alle möglichen Richtungen in
Anwendung zu bringen, auf einen einzigen Punkt, das
Maß, vereinigt als Maß dieser oder jener veränderlichen
Größe, in der Vermutung, daß es von diesen oder jenen
anderen veränderlichen Größen, die ebenfalls zu messen
sind, eine Funktion bilden könnte. Das * Gesetz* im modernen
Sinne des Wortes ist gerade der Ausdruck emer
beständigen Beziehung zwischen variierenden Größen. Die \
heutige Wissenschaft betätigt sich also als eine Tochter \
der Mathematik. Sie ist an dem Tage ins Leben getreten, !
da die Algebra hinreichend Kraft und Geschmeidigkeit er- ;
worben hatte, um. die Wirklichkeit verflechten in das Netz j
ihrer Berechnungen ziehen zu können. Zuerst trat die ;
Astronomie auf, sodann die Mechanik, und zwar unter !
jener wesentlich mathematischen Form, welche jenenWissen- \
Schäften die heutige Zeit gegeben hat.
Sodann entwickelte sich die Physik, eine der Matne- \
matik gleichkommende Physik. Die Physik rief die Chemie \
hervor, die sich ebenfalls auf Maßeinheiten gründet, auf «
Vergleichungen von Gewicht und Volumen. Nach der »
Chemie erschien die Biologie, die ohne Zweifel noch keine /1
mathematische Form angenommen hat und sie wohl auch i >
nicht annehmen wird, deren Bestreben aber nichts desto-
weniger durch Vermittelung der Physiologie darauf ge- f
richtet ist, die Gesetze des Lebens abzuleiten, wie diejenigen
der Chemie und der Physik, d. h. indirekt der_
"—-Mechanik. ; Weil nun im Grunde unsere Wissenschaft stlts
näcH^JeF^mathematischen Form wie nach einem Ideal
strebt, ist ihr ganzer Sinn lediglich und allein auf das
Messen gerichtet, und da, wo eine Berechnung noch nicht
anwendbar ist, da wo sie sich noch lediglich mit einer Beschreibung
begnügen muß oder auch mit einer Analyse des
Gegenstandes, da läßt sie sich es angelegen sein, diesem
Gegenstand energisch näher zu treten, indessen wohlbemerkt
lediglich nach der Seite hin, die befähigt erscheint
, eines Tages auch für das „Maß* zugänglich zu
sein. Nun ist es aber just das Wesen der Geistes-Wissenschaften
, sich nicht auf das Maß beschränken zu lassen.
Der vornehmste Schritt der heutigen Wissenschaft sollte
also der sein, daraufhin ihre Untersuchung auszudehnen,
ob nicht jene Erscheinungen des Geistes durch andere Erscheinungen
zu ersetzen seien, die diesen gleich und ebenbürtig
wären und die für das Maß zugänglich sind. In der
Tat sehen wir, daß unser Bewußtsein auf die eine oder
andere Weise an ein Gehirn gebunden ist. Man studiere
daher zunächst das Gehirn und untersuche das Cerebral-
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