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274 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1914.)
bis gegen Morgen. Wir waren im Kloster gut bekannt und
gleich am darauffolgenden Morgen fragten wir an der Klosterpforte
, was heute Nacht Außergewöhnliches im Chore war.
„Niemand war im Chor", hieß es, aber in der Nacht seien
2 Mönche des Klosters gestorben.11 — Daß in der Dame
das Ahnungsvermögen stark entwickelt ist, das sich ausnahmsweise
(wie in dem oben berichteten Fall) zum zweiten
Gesicht steigert, zeigt die Bemerkung in ihrem Briefe:
• Mancher meiner Träume sagte mir, was ich den kommenden
Tag erlebe, wenn es auch oft ganz nebensächliche Dinge
sind.* — Auch eine telepathische Kundgebung erlebte die
Berichterstatterin gemeinsam mit ihrem Manne. Sie schreibt:
,Am 10. Oktober 1911 war ich in der Küche beschäftigt,
in der auch gerade am Mittag mein Mann anwesend war.
An die Küche schließt die Speise an, in der auf langen
Regalen meine Weckeinkochgläser gefüllt aufgestellt sind.
Plötzlich ein erschütternder und zugleich klirrender Schlag
in der Speise. „Da hast du es nun, weil du soviele der
schweren Gläser auf eine Reihe pfropfst! Eine ganze Reihe
muß heruntergeflogen sein*, sagte mein Mann halb erzürnt,
halb mitleidig. Zaghaft öffne ich die Speisetüre. Alles ist
unverrückt an seinem Platze, kein Nagel fehlt. Kopfschüttelnd
sah ich meinen Mann an. Am gleichen Tage starb die
Bürgermeistersfrau am Orte, an deren Erkrankung wir, da
sie uns eine gute Bekannte war, herzlichen Anteil genommen
hatten. Sie war auch unser erster Gedanke, als wir uns
von unserm Schrecken erholt hatten/ —
Auch ihre Mutter hatte die Gabe des mystischen
Schauens und wir haben hier wieder eine Bestätigung der
Tatsache, daß diese Gabe wie das zweite Gesicht oft erblich
i&t:*) „Der Erzählung meiner Mutter, die ich in nachfolgendem
wiedergebe, möchte ich vorausschicken, daß meine
Mutter eine religiöse, fröhliche Frau war, die den Aberglauben
, sowie jede Geheimnistuerei haßte und alle geheimnisvollen
Vorgänge, wie sie an sie herankamen, zu
ergründen suchte, soweit das mit unsern gefesselten Sinnen
möglich ist.
Es war zur Fastenzeit, und zwar*in den Kartagen.
Meine Mutter mochte damals 35 Jahre zählen. Sie half
in den letzten Tagen vor Ostern ihrer Tante, die eine
umfangreiche Gärtnerei besaß, im Geschäfte. In dem ober-
pfälzischen Städtchen Cham besuchen die Katholiken den
bei der Stadt gelegenen Kalvarienberg, die Kreuzwegstationen
, die den Weg hinauf angebracht sind, und die oben
) Vgl. Zurbonsen ,Das zweite Gesieht", 3. Auflage 1914.
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