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Clericus: Magicon.
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erbaute überaus freundliche gothische Kalvarienkirche. Schon
war die Dämmerung ganz nahe gekommen, konnten Mutter
und Tante erst vom Geschäfte abkommen zum Wallfahrtsgang
auf den Kalvarienberg. Kein Beter kreuzte mehr
ihren Weg, aber bei der dritten Kreuzwegstation sahen sie
vor sich in ganz geringer Entfernung eine Frau auch den
Berg hinan gehen, deren Kopf ein wollenes Tuch in landesüblicher
Tracht bedeckte, die ihnen aber sonst ganz fremd
war. Sie beschleunigten ihren Gang, um der Unbekannten
nachzukommen, konnten aber die, die immer in gleicher
Entfernung von ihnen ging, merkwürdigerweise nicht erreichen
, und als sie die Kirche betraten, kniete die Unbekannte
ruhig und unverrückt bereits eine Stuhlreihe vor
ihnen. Nach der Andacht, die sie ob des sich neigenden
Tages beschleunigten, konnte es meine Mutter nicht unterlassen
, ihr Wachslicht zu nehmen, sich vorneüber zu neigen
und der einsamen Beterin zum Erkennen — in kleinen
Städten kennt die Einwohnerschaft sich meist gegenseitig —
ins Gesicht zu leuchten. Der Kaum innerhalb des Tuches,
wo bei uns Sterblichen das Gesicht ist, war völlig — leer.
Meine Mutter erfaßte ein Grauen, sie nahm zitternd die
Tante beim Arm und eilte aus der Kirche, den Berg hinab,
ohne daß noch jemand ihnen folgte j aber Zeit ihres Lebens
äußerte Mutter schmerzliche Reue darüber, daß sie damals
nicht den Mut gehabt hatte, die gesichtlose Unbekannte
zu berühren oder anzusprechen.*
Diesen Mitteilungen fügt sie noch ein Vorkommnis aus
ihrem jetzigen Aufenthaltsort zu St. in Niederbayern an:
„Am 21. April 1913 starb in unserem Filialdorfe L. ein
schlichter Gütler. Acht Tage nach seinem Tode klopft es
am Küchenfenster immer und immer wieder, bei Tag und
auch bei Nacht. Man geht der Sache nach, kann aber bei
dem allein stehenden Hause nie jemand am Küchenfenster
entdecken. Da sagt die Unterbliebene Witwe: „Dann klopft
. gewiß Vater, was er nur will ? * Endlich erinnert sie sich,
daß sie einmal mit ihrem Manne die Aufstellung eines sog.
„Bildstöckels* mit der Statue St. Antonius beschlossen hat
zum Danke für die Errettung aus einer Not. Das Bild-
stöckel wird aufgestellt und von da ab war auch das Klopfen
am Küchenfenster zu Ende/ —
Die Leser der „Psych. Stud." interessieren sich vielleicht
auch für folgende Fälle, die ich mir als Lesefrüchte notierte:
In der Literar-Beilage zur Augsb. Postzeitung (Nr. 11,
1914) berichtet Oberstleutnant a. D. Reiche unter dem Titel:
„Ich hatt' einen Kameraden* eine merkwürdige Todesahnung
aus dem Krieg 1870/71. Der Berichterstatter befand *
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