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284 Psychische Studien. XLL Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1914.)
Es taucht also hier die Frage nach Steiners Werdegang
auf, die L£vy in den folgenden Abschnitten behandelt.
Im zweiten Abschnitt behandelt er zunächst den Philosophen
Steiner, dessen literarische Tätigkeit damit begann,
daß er Goethe's naturwissenschaftliche Werke in Kürschner's
Nationallitteratur herausgab.
Ein tiefes Eindringen in die Goethe'sche Gedankenwelt
war die Frucht von Steiners 7 jähriger Mitarbeiterschaft am
Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar. Dort war es auch, wo
er — wie L£vy schreibt
„mit Kopf und Herz auf dem Boden der Goethe'schenWeitanschauung
stehend, sich seine eigene aufbaute: Notwendigkeit des Hinausgehens
über die bloßen Beobachtungs-Tatsachen, vernunftgemäßer
Glaube an die Einheit von Welt und Mensch und an lebensvolle,
real treibende, urbildliehe Kräfte hinter den unmittelbaren Erfahrungs
-Tatsachen der Naturwissenschaft."
So war es auch. In seinen Schriften: „Wahrheit und
Wissenschaft44*) und: „Die Philosophie der Freiheit***) erweist
sich Steiner als herausgewachsen aus der Goethe'sehen
Weltanschauung. Als Bindeglied zwischen Natur und Geist
hat er jetzt das Denken erkannt.
„In dem Densen — schreibt er in der „Philosophie der Freiheit
" — halten wir das Weltgeschehen an einem ZipfeJ, wo wir
dabei sein müssen, wenn etwas zustande kommen soH. Und das
ist gerade das, worauf es ankommt. Das ist gerade der Grund,
warum mir die Dinge so rätselhaft gegenüberstehen , daß ich an
ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie einfach
vor; beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Daher
gibt e3 keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für das Betrachten
des Weltgeschehens als das Denken."
Und am Schlüsse dieser „Philosophie der Freiheittt
schreibt er:
„Daß eine Idee zur Handlung werde, muß der Mensch erst
wollen, bevor es geschehen kann. Ein solches Wollen hat seinen
Grund also nur im Menschen selbst. Der Mensch ist dann das
letzte Bestimmende seiner Handlung. Er ist frei."
Wer diese „Philosophie der Freiheit* aufmerksam durchliest
, der wird darin jene drei Grundsätze bestätigt finden,
in die - wie wir oben gesehen haben - Levy das philo-
sophische Weltbild Stemels zusammenfaßt^ nämlich:
1. Den Grundsatz des Hinausgehens über die bloßen
Beobachtungs-Tatsachen, der aus der Erkenntnis der Freiheit
des Ichs hervorgeht; 2. den Grundsatz, daß das Ich
mit dem Weltgrund zusammenhängt, daß also Welt und
*) Weimar, Herrn. Weißbach, 1892.
**) Berlin, Emil Felber, 1894.
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