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292 Psychische Studien. XLl. Jahrgang. 5. Heft. (April 1914.)
beobachtet haben, begibt sich auch hier. Selbstherrscher,
welche einem Manne so viel vertrauen, daß sie ihm ihr
eigenes leibliches Wohl anheimstellen, machen diesen Mann
ihres Vertrauens auch zum Lenker des Schicksals ihrer
Völker. Trotz seiner Überhäufung mit wichtigen Geschäften
fand Ibn Thofail dennoch Zeit zur Abfassung medizinischer
und philosophischer Schriften, unter denen der zu
besprechende Roman eine nicht unbedeutende Stelle einnimmt
. Auch empfahl Thofail den unter dem Namen
Averroes bekannten Philosophen Ibn Rochd seinem
Khaiifen zur Berufung an den Hof von Granada. Dort
entwickelte sich zwischen den beiden ebenbürtigen Faläcivas,
wie sich die mohammedanischen Philosophen nannten, ein
neidloses Verhältnis gegenseitiger Achtung und Freundschaft
, welches man vielleicht dem zwischen Goethe und
Schiller während der Weimarer Zeit vergleichen könnte.
Lange überlebte Thofail „seinen* Khaiifen nicht, aber auch
dessen Sohn Aboü Yofi9of "iaqo&b überhäufte den Greis
bis zu seinem Lebensende mit hohen Ehren.
Was uns an dem ThofaiPschen Roman am meisten
auffällt, ist der Freimut, mit dem die philosophische Erkenntnis
über die religiöse Offenbarung gestellt wird. Gewiß
war sein fürstlicher Gönner der mächtigste Herrscher seiner
Zeit, da sein östliches Gegenstück, der Khalif von Bagdad,
damals nur mehr eine Scheinmacht besaß. Aber auch er
war in religiösen Dingen durchaus nicht unabhängig, da er
selber nur durch eine religiöse Bewegung, als Nachfolger
des Mahdi's, „Herr der Gläubigen des Westens* geworden
war. Obwohl selbst Faläciva und mit der griechischen
Philosophie befreundet, durfte auch er sich nicht in Gegensatz
zur Orthodoxie bringen, wie dies Averroes zu seinem
Schaden erfahren mußte. Immerhin ist es Thofail gelungen,
die so gefährliche Klippe glücklich zu umschiffen. —
Ich komme nun zum Inhalt des Romans, der die
Lebensschicksale und die geistige Entwicklung eines gleich
Robinson völlig auf sich gestellten Menschen in geistreicher
Spekulation zur Darstellung bringt. Während die weiteren
Bearbeiter des gleichen Problems in erster Linie die äußere,
rein praktische Seite desselben ins Auge fassen, findet
dasselbe bei Thofail, ohne daß diese vernachläßigt würde,
zugleich eine geistige Vertiefung. Unter entsprechenden
Veränderungen würde ein Werk wie das seine auch heute
noch Aufsehen erregen; mit Staunen aber erfüllt uns die
Tatsache, daß um die Mitte des zwölften Jahrhunderts,
während der europäische Norden noch in geistigem Halbdunkel
lag, auf spanischem Boden ein Werk entstehen konnte,
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