http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1914/0300
Freudenberg: Eine philosophische Robinsonade. 293
welches frei von Vorurteil und Befangenheit irgendwelcher
Art ein ruhiges Geisteslicht ausströmen sollte.
Was die Geburt des Hayy ben Yaqdhän, des Helden
seiner Erzählung, anbetrifft, so läßt Ibn Thofail dem Leser
die Wahl zwischen zwei Annahmen. Nach der einen wäre
sein Held auf einer einsamen indischen Insel geboren,
unterm Äquator, ohne Vater und ohne Mutter, aus fermentierendem
Schlamm. Der Verfasser bespricht eingehend
die geographische Lage der Insel, für welche er ein besonders
warmes und für derartige Möglichkeiten besonders
günstiges Klima in Anspruch nimmt. Nach der zweiten
Annahme wäre Hayy der Sohn einer Prinzessin, welche %
auf einer großen bevölkerten Insel lebte, in der Nachbar- *
schaft der verlassenen Insel, und die das Kind, um sein
Leben zu retten, in einer sorgfältig verschlossenen Kiste
ins Meer auszusetzen genötigt war. Die Wellen trugen das
Kind an das Gestade der unbewohnten Insel, und durch
den Anprall der Kiste wurde diese geöffnet. Für die Anhänger
der ersten Lesart beschreibt der Verfasser auf das
genaueste die verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien,
welche der menschliche Embryo bei einer solchen „Generatio
aequivoca" in seiner Entwicklung aus dem Schlamme durchzumachen
hätte; vom ersten Erscheinen eines Gasbläschens
ab, woraus sich das Herz bilden und womit sich sogleich
die Seele verbinden soll, bis zur schließlichen Ausstoßung
des zur Keife gelangten Fötus. Bemerkenswert ist bei dieser
sonderbaren Beschreibung ein langer und schöner Vergleich
zwischen der beständigen Bestrahlung aller Körper durch
das Licht, welches von der Sonne ausgeht, und der Seele,
die von Gott ausgeht, eine doppelte Bestrahlung, welche in
den verschiedenen Klassen von Körpern eine zweifache
Reihe von Eigenschaften und Fähigkeiten erzeugt, nämlich
physische und psychische.
Von diesem Augenblicke an gehen die beiden Versionen
Hand in Hand: ein« Gazelle, welche ihr Junges verloren
hat, eilt auf das Schreien des kleinen Knaben herbei, nimmt
ihn an Kindesstatt an, ernährt ihn mit ihrer Milch und
zieht ihn auf wie eine zärtliche Mutter. Das Kind wächst
heran. Begabt mit hoher Intelligenz, beobachtet es, denkt
es nach und lernt es allen seinen Bedürfnissen zu entsprechen
. Es findet Mittel, sich zu kleiden, sich eine Wohnung
zu verschaffen, später selbst wilde Tiere zu zähmen
und sich nutzbar zu machen, so daß sein Leben Behaglichkeit
gewinnt. Dieser Passus ähnelt so sehr späteren Bearbeitungen
des gleichen Problems, daß man sich fragt, ob ihre Verfasser
nicht Kenntnis desThofaiFschenWerkes genabt haben könnten.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1914/0300