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294 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1914.)
Aber die Pflegemutter des Kindes, die Gazelle, stirbt.
Erschreckt und in dem Bestreben, das Übel, welches sie
erstarrt gemacht hat, kennen zu lernen, faßt er durch eine
sonderbare Überlegung den Entschluß, ihre Brust zu öffnen,
um dort den Sitz der Seele, des Lebensprinzipes, zu finden.
Er kommt zu dem Schlüsse, daß die Seele ihren Sitz in
einer der Herzkammern haben müsse, welche er ohne Blut
findet, erkennt aber, daß sie für immer davon gegangen
sei. Er bestattet den Köiper. Sein ganzes Interesse, seine
Liebe und seine Überlegungen sind jetzt auf die Seele
gerichtet, welcher der Körper nur als Werkzeug dient.
Feuer hat sich Hayy durch das Eeiben von Holzstücken
verschafft. In der Höhle, in welcher er sich aufhält
, brennt ein Feuer Tag und Nacht. Er studiert die
Eigenschaften der Flamme, welche seine Bewunderung erregt
. Indem er einesteils ihr Aufwärtsstreben, anderseits
ihre Wärme feststellt, bildet sich bei ihm die Überzeugung,
daß sie einerseits mit den Himmelskörpern, andererseits mit
der Seele, dem Prinzip der Lebenswärme, verwandt sei.
Um zu sehen, ob die Seeie in der Tat wie das Feuer Licht
und Wärme besitzt, öffnet er das Herz eines lebenden Tieres.
Er beobachtet in dem Hohlraum, welchen er bei der toten
Gazelle leer gefunden hat, eine Art Schaum, ein weißliches
Gas, welches überaus heiß ist. Das Tier stirbt sofort. Er
glaubt damit die animalische Seele, das Prinzip, wenn nicht
des Lichtes, so doch der Wärme und des Lebens entdeckt
zu haben. Interessant ist die Darstellung, wie diese Wärme
nach seiner Anschauung sich entwickelt, sich erhält und
allen Organen Leben gibt. Hayy fährt fort, solche Vivisektionen
zu machen und erwirbt auf diesem Wege Kenntnisse
, die denen eines gelehrten Naturforschers gleichen.
Er erkennt, daß das, was die Einheit des Organismus, trotz
der Vielfachheit seiner Teile, trotz der Mannigfaltigkeit
seiner Empfindungen und Bewegungen ausmacht, jener
tierische Geist ist, welcher von einem einzigen Zentrum
ausstrahlt, sich der Glieder oder Organe als ebenso vieler
Werkzeuge bedient und ein jedes derselben zu einer bestimmten
Vorrichtung verwendet. (Hier folgt eine Theorie
der Tiergeister.)
Hayy, jetzt 21 jährig, stellt nun eine neue Reihe von
Betrachtungen an. Von der Physik, von der die Theorie
von der Tierseele ein Teil war, geht er zur Metaphysik
über. Indem er alle Körperwesen prüft, welche in der
Welt des Entstehens und Vergehens existieren: Tiere,
Pflanzen, Gesteine, sieht Hayy, daß sie alle zusammen und
jedes für sich besonders eine unbegrenzte Vielheit von
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