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Frendenberg: Eine philosophische Eobinsonade. 297
Hat er aber sein geistiges Wesen erkannt und sich von ihm
abgewendet, um seinen Leidenschaften zu folgen, und hat
ihn der Tod in diesem Zustande überrascht, so wird er der
intuitiven Vision beraubt sein und darüber einen grenzen-
losen Schmerz empfinden. Hat er sich jedoch gan/und gar
auf sich selber gewendet und er stirbt in diesem Zustande
der aktuellen Intuition, so wird er ewig in ihr verbleiben
und eine Glückseligkeit ohne Ende genießen.
Diese Bestimmungen führen Hayy zur Untersuchung
der mystischen Extase durch Gedankenkonzentration auf
das notwendige Wesen. Aber seine Empfindungen, seine
Sinnesbilder, Sie physischen Bedürfnisse Eringe/ihn jeden
Augenblick davon ab. Daher fürchtet er beständig, daß der
Tod ihn überraschen könnte, während er in einem solchen
Zustande der Zerstreuung ist, und ihn dann in ein ewiges
Unglück stürzen würde. In der Hoffnung, hiergegen ein
Mittel zu finden, prüft er die Handlungen und Neigungen
aller Wesen und bemerkt, daß die Himmelskörper alle eine
intelligente Essenz besitzen wie seine eigene, der eine ununterbrochene
Intuition des notwendigen Wesens ewig innewohnt
, daß aber unter allen Tierarten er der einzige ist,
der dieses Wesen kennt. Der Grund ist, daß der tierische
Geist, der in seinem Herzen wohnt, sich in einem vollkommeneren
Gleichgewicht befindet als bei den anderen
Tieren in Betreff der vier .Elemente, aus denen sich dieser
Geist zusammensetzt. Infolgedessen ist er weder schwer
noch leicht, besitzt ein intensiveres, ein unabhängigeres
Leben als jene und bietet darum eine gewisse Ähnlichkeit
mit den himmlischen Körpern. Aber er sieht auch, daß
er in gewissem Sinne dem notwendigen Wesen selbst gleicht,
durch den edelsten Teil seiner selbst, durch seine unkörperliche
intelligente Essenz, und zugleich den Tieren
durch seinen niederen Teil, den Körper. Daraus ergibt sich
für ihn die Verpflichtung, durch drei Arten von Handlungen
sich ähnlich zu machen: den Tieren, den himmlischen Körpern
und Gott. Die erste dieser drei Arten zu leben ist
jedoch nichts anderes als eine Bedingung der zweiten und
die zweite der dritten, welche das alleinige Ziel ist. Aus
diesen allgemeinen Gesichtspunkten entwickelt Hayy eine
geordnete .Reihe von Regeln einer mystischen Moral.
Das animalische Leben, obwohl äußerlich notwendig
zur Erlangung einer beständigen Intuition, ist innerlich ein
Hindernis für diese. Es muß also möglichst eingeschränkt
werden. Hierfür stellt Hayy bestimmte Vorschriften auf,
welche die Art der Speisen, ihre Menge, die Zahl der
Mahlzeiten etc. regeln, offenbar unter buddhistischem Ein-
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