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Antrittsrede von Prof. Dr. Heinrich Bergson. 328
eindrücke aufbewahren würden, wahre phonographische
Platten, welche Tonschwingungen aufzeichnen würden. Kurz,
wenn man genau sämtliche zugunsten einer vollständigen
Ubereinstimmung und einer gewissen Abhängigkeit des
geistigen Lebens vom Leben des Gehirns angeführten
Tatsachen in Betracht zieht, wobei ich, was ja auch ohne
Bedeutung ist, die Empfindungen und Bewegungen beiseite
lasse, da das Gehirn gewissermaßen ein sensorimotorisches
Organ ist, so sieht man, daß sich diese Tatsachen auf Gedächtnis
-Erscheinungen zurückführen lassen und daß die
Lokalisation der Aphasien, und diese Lokalisation allein,
die zu der parallelistischen Doktrin beizutragen scheint, der
Anfang eines Experimental-Beweises ist.
Nun dürfte ein vertiefteres Studium der verschiedenen
Aphasien gerade meines Erachtens die Unmöglichkeit erweisen
, die Erinnerungen als bloße Platten oder Phono- *
gramme aufzufassen, die durch das Gehirn aufgenommen
wurden, die Unmöglichkeit der Annahme, daß das auch
wirklich im Gehirn irgendwie vorhanden sein müßte, was
die Erinnerungen aufbewahren. An dieser Stelle vermag
ich nicht mich auf Einzelheiten der Kritik einzulassen, welche
ich früher einmal von der üblichen Deutung der Aphasien
gegeben habe, eine Kritik, die als geradezu sonderbar in
einer Zeit enscheinen muß, da ein gewisser Begriff der
Aphasie als ein Dogma aufgefaßt wird, wozu indes die
Eathologische Anatomie selbst in den letzten Jahren ge-
ommen ist, hinsichtlich dessen ich bloß die Arbeiten des
Prof. Pierre Marie und seiner Schüler zu erwähnen brauche.
Hier werde ich also nur meine Schlußfolgerungen wiederholen
. Was sich meiner Ansicht nach dem aufmerksamen
Studium der Tatsachen entzieht, das ist, daß die charakteristischen
Hirnverletzungen der verschiedenen Aphasien
durch die Erinnerungen selbst nicht erreicht werden und
daß infolgedessen keine Erinnerungen existieren, die in dem
oder jenem Punkte der Hirnschale aufgespeichert waren
und von der Krankheit zerstört werden. Diese Verletzungen
machen in der Tat die Zurückrufung der Erinnerungen
unmöglich oder wenigstens schwierig; sie erstrecken sich
auf den Mechanismus des Zurückrufens und auf diesen
Mechanismus allein. Genauer ausgedrückt, die Rolle, die
das Gehirn hier spielt, ist die, daß der Geist, wenn er dieser
oder jener Erinnerung benötigt, von dem Körper -eine gewisse
Haltung oder gewisse ursprüngliche Bewegungen erhalten
kann, die der gesuchten Erinnerung einen angemessenen
Rahmen darbieten. Ist einmal der Rahmen da,
so wird die Erinnerung von selbst kommen, um darin Platz
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