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Kaindl: Über wahre und falsche Moral.
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<Jazu, brutale Aktionen zu unterstützen und ihre natürlichen
und angemessenen Gegenwirkungen zu hemmen. Dadurch
wird der Anschein erweckt — und dies namentlich bei jenen,
welche, sich in der Rolle des Hammers gefallend, ihren
Nächsten gern als ihren Ambos betrachten, — als existierte
kein solches Gesetz, welches nach Emerson gegen unseren
Willen unser Handeln regiert.
„Quem Deus perdere vult, eum dementat prius." Nur Verblendung
vermag ein solches Gesetz zu leugnen. Mit dem
selben Rechte könnte man behaupten, Wasser fließe nicht
nach abwärts, weil es oben durch Stauwerke aufgehalten
wird. Solchen Stauwerken sind unsere modernen Institutionen
vergleichbar. Sie vermögen, wie die Wehre das
Wasser, natürliche Reaktionen auf ungerechte Aktionen in
ihrer ursprünglichen Form wohl aufzuhalten, bewirken aber
dadurch eine fortschreitende Demoralisation, die noch verderblichere
und allgemeinere Reaktionen vorbereitet.
Als eine summarische Rückwirkung unzähliger, durch
schlechte Einrichtungen unterdrückter individueller Reaktionen
auf ebenso zahllose Ungerechtigkeiten hat man offenbar
die französische Revolution zu betrachten. Zweifellos
haben wir in ihr eines jener Ereignisse zu erblickes, welches
die von den Menschen verfolgten egoistischen kleinen
Ziele, die abseits vom Allgemeingute liegen, wieder in die
Richtung der Weltpole bringt. Das Gesetz aber, unter
dessen Wirksamkeit derartige Resultate unter gewissen
Bedingungen zustande komm!n, ist das der Wirkung und
Gegenwirkung, das sich etwa so formulieren ließe:
Jede Wirkung hat ihre Gegenwirkung und jedes Ding
reagiert in einer ihm eigentümlichen, ganz spezifischen
Weise. Eine Gegenwirkung läßt sich nicht aufheben; gelingt
es, sie in einer Form abzuwenden, so kehrt sie in einer
anderen wieder. „Verjage die Natur mit einer Heugabel,
trotzdem kehrt sie eilig zurück* (Horaz). —
Der herrschende oder der auf selbstischem Vorteil bedachte
Mensch ist mit zunehmender Intelligenz immer mehr
bemüht gewesen, sich vor den natürlichen Konsequenzen
seiner egoistischen Handlungsweise zu schützen, und die
meisten menschlichen Institutionen entsprangen diesem Bestreben
.
Mehr als für die Zeit, auf die es gemünzt war, gelten
für die unsere, in welcher die Volksbewucherung und Ausbeutung
in einem nie dagewesenen Grade und mit einer nie
dagewesenen Frechheit völlig straflos betrieben wird, die
Worte, die Shakespeare seinem Timon in den Mund legt:
„Gesetze, eu'r Zaum und Geißel hat die Macht, straflos zu
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