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Kaindl: Über wahre und falsche Moral.
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bedeutend mit „Widerstrebet nicht dem Unrecht*. Da
diese Widerstandslosigkeit gegen das Unrecht, dessen Herrschaft
begründen und sichern würde, so wäre der Effekt
also ein total antimoralischer. Was soll das „ Liebet eure
Feinde* bei jenen bezwecken, die von der Liebe verächtlich
denken und sie als den Ausfluß von Furcht und
Schwäche betrachten?
Wer selbstisch nur nach eigener moralischer Schulung
und Vervollkommnung strebt, dem mag ein solches unterwürfiges
Verhältnis als zweckdienlich erscheinen; es ist
nicht ausgeschlossen, daß eine Steigerung der moralischen
Kraft ganz ausnahmsweise dadurch erreicht wird; es ist
ferner möglich, daß, insofern jedes Individuum mit der Gesamtheit
solidarisch verbunden ist, sie an dem auf diese
Weise errungenen moralischen Gewinn geistig partizipiert;
meines Erachtens steht aber dies alles in gar keinem Verhältnisse
zu einer successiven Preisgabe der Gesamtfreiheit, der
Grundbedingung jeder sittlichen und geistigen Entwickelung.
Wenn sich auch nicht mit Sicherheit nachweisen läßt,
daß das alles Leben beherrschende Gesetz der Wirkung
und Gegenwirkung eice moralische Tendenz verfolgt, so
läßt sich doch nicht leugnen, daß alle auf Unterdrückung
gerechter Abwehr abzielenden Doktrinen und Institutionen
moralischen Indifferentismus und Verfall zur Folge haben,
und daß in dem Maße, als der brutale Egoismus dadurch
entfesselt wird, dem Altruismus die Möglichkeit benommen
wird, seine gemeinnützige und heilsame Wirksamkeit zu
entfalten. —
Eine der vornehmsten Aufgaben der Moral ist es, sich
der Unterdrückten und Schwachen anzunehmen und sie
vor Gewalttaten und Unrecht zu schützen. Dazu bedarf
es aber einer angemessenen Abwehr. Das Dulden von Unrecht
läßt sich, soweit es uns selbst betrifft, allenfalls noch
moralisch rechtfertigen, nicht aber, wo es sich um das Wohl
und Wehe anderer, uns teurer Mitgeschöpfe handelt. Diesfalls
gebietet uns die wahre, natürliche Moral ein der
christlichen entgegengesetztes Handeln. Der christliche
Moralist wird hier in seinem Verhalten von egoistischen
Motiven geleitet, während die natürliche Moral sich als
altruistisch bewährt.
Während der Christ bei seinem Tun und Lassen die
Folgen desselben mit .Rücksieht auf sich selbst erwägt und
dabei vornehmlich auf sein eigenes ewiges Heil Bedacht
Birnrnt; zeigt sich der natürlich! MoralistLsschließlich von
dem Wunsche beseelt, andere vor Unrecht zu schützen,
ohne dabei irgendwelche persönliche Interessen zu verfolgen.
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