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372 Psychische Studien. XLL Jahrgang. 6. Heft. (Juni 1914)
licher Besitz des Traumes und des Mythus. Auch unser Tageslehen
macht davon Gebrauch , nicht nur die Naturvölker, sondern auch
bei uns der „Mann aus dem Volke". Sagt der Gebildete: „Hier
empfinde ich Schmerzso spricht der schlichte Mann: „Mir ist's,
als ob mir einer mit einem Bohrer im Knochen herumführe." Ganz
besonders sind es zwei dem Mythus nahe verwandte und mit ihm
aufs innigste verknüpfte Geistesprodukte, zu deren Entstehung der
Traum sicherlich in erheblichem Maßstabe mitgewirkt hat, nämlich
der Geister- oder Seclenglaub* und der Zauberglaube, beide zugleich
die unentbehrlichen Vorprodukte für die Entstehung der
positiven Eeligionen. Aus der Erscheinung eines Verstorbenen im
Traum zog der primitive Mensch zwei Schlüsse: erstens den Dualismus
von Leib und Seele und zweitens den Unsterblichkeitsglauben.
Hier sind auch die Fratzenträume und Alpträume, Werwolfträume
usf. zu erwähnen. Und was den Zauberglauben angeht, so besteht
zwar die Möglichkeit, daß er sich unabhängig vom Traum auf dem
Boden primitiven Geisteslebens entwickelt hat, aber die Verwandtschaft
ist eine unverkennbare. Beide wachsen aus der gemeinsamen
Wurzel des Wunsches hervor (Liebeszauber, Schatzzauber, Behexung,
Schadenzauber, Schadenabwehrzauber). Ebenso wie Mythus und
Zauberglaube sind auch die religiösen Vorstellungen durch zahlreiche
Beziehungen mit dem Traumleben verknüpft, ja vielleicht
vielfaea erst durch die von diesem ausgehenden Anregungen ermöglicht
worden. Man darf hier nicht an die hochentwickelten Eeligionen
der Gegenwart denken, sondern an deren primitive Vorläufer
und die Zwischenglieder. Das Wunder, des Glaubens liebstes Kind,
trat an die Stelle des Zaubers, mit dem es im Grunde identisch ist.
Und wie im Traum, so spielt auch das Symbol bei den positiven
Religionen eine bedeutende Rolle. Man denke nur an 'Jie Madonna
und die Heiligenbilder. Allmählich aber gewann das begriffliche
Denken den Sieg über das bildliche. Der Fetisch hörte auf, Gott
zu sein; er wurde lediglich dessen Sinnbild, das nur mehr dazu
diente, religiöse Stimmung hervorzurufen oder zu erhöhen. Indem
die Kunst immer edlere Göttergestalten hervorbrachte, vergeistigte
sie die religiösen Vorstellungen selbst und „indem auf diesen Subli-
mierungsprozeß auch noch ethische, philosophische und naturwissenschaftliche
Elemente Einfluß ge^ innen, erreicht schließlich die Idee
der Religion die höchste Stufe der ihr möglichen Entwickelung, indem
sie in die Idee einer dogmenfreien Religion der Liebe und
Duldsamkeit, in die Idee der Religiosität, umgewandelt wird".
Freudenberg - Brüssel.
Der Mystizismus in seinen Beziehungen zur Geistesstörung. Von Prof.
Dr. A. Marie. Berechtigte Übersetzung von Oberarzt D<\ G.
Lomer. Leipzig 1913, Joh. Ambr. Barth, Verlag. Preis brosch.
5 M., geb. 5.80 M.
Mit Recht betont Lomer in seinem Vorwort, daß zwar die Zeit,
wo die Aufgeklärten des Jahrhunderts über alles, was zum Gebiete
der Mystik gehörte, besten Falles mitleidig die A*chsel zuckten, noch
nicht lange ^hinter uns liege, daß jedoch heute alle Zeichen darauf
hindeuteten, daß wir aufs neue in ein Zeitalter ausgesprochener
religiöser Prägung gingen. Da sei es denn von hohem Werte, die
Antwort des französischen Psychiaters auf die Frage: Was ist die
Mystik psychologisch? kennen zu lernen. Das vorliegende Buch
desselben gilt ihm als ein wichtiger Baustein, den die Forschung
zu dem neuen Religionsgebäude der Zukunft herbeitrüge. Und ich
glaube, jeder Unbefangene wird dem unbedingt beistimmen können,
wenn auch im Einzelnen sowohl, als auch im Prinzip der Marie'sche
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