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392 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 7. Heft. (Juli 1914.)
in sein Vertrauen einzuschleichen gewußt hatte, zur Unterschrift
eines Testaments gebracht worden, das jener aufgesetzt
und worin er sich zum Universalerben ernannt
hatte, obwohl Zipgg selbst, der keine Familie hatte, vorher
Andeutungen gemacht hatte, daß er Richters Vater bedenken
wolle. Unruhig über seine Unterschrift reiste der
Alte ab. »Nach etwa acht Tagen ereignete sich nun folgender
sonderbarer Vorfall: Ich erwachte eines Nachts aus
meinem gesunden Schlafe durch ein nahes Getöse. Der
Mond erhellte trotz der herabgelassenen Rouleaux genugsam
die Kammer, in welcher ich mit meinem Vater schlief.
Ich rieb mir die schlaftrunkenen Augen aus und war erstaunt
, meinen Vater ebenfalls sitzend im Bette und gespannt
horchend zu finden. „Hast du den Lärm auch gehört
?*, fragte er mich. In demselben Augenblick ging
das Getöse von neuem los. Wir horchten genau, es war
ein heftiges Werfen, Poltern und dazwischen ein schmetterndes
Krachen, das aus dem kleinen Kabinett erscholl,
welches an das nebenanliegende Atelier stieß und in dem
sich eine schöne Sammlung von Gipsabgüssen und die
Kupferstichsammlung des Vaters befand. Es war gar nicht
zu bezweifeln, man hörte deutlich die größeren und kleineren
Figuren herabstürzen und zerbrechen. Nachdem wir uns
überzeugt, daß keine Täuschung obwalte, sprang Papa aus
dem Bett, ergriff einen Säbel und marschierte so im Hemd
nach der Tür. Ich aber wollte meinen Papa doch nicht
allein lassen oder ich fürchtete mich, allein zurückzubleiben,
kurz, ich sprang ebenfalls aus dem Bett und bewaffnete
mich mit einer fleißschiene. Wir öffneten vorsichtig die
Ateliertür und, da sich hier nichts zeigte, auch die Tür
zum Gipskabinett. Wir glaubten, in eine grauenvolle Zerstörung
sehen zu müssen, aber nichts von alledem. Es war
mäuschenstill, wie es nach Mitternacht in einem stillen Hof
nur sein kann; alles präsentierte sich in alter Ordnung und
ohne irgend eine Verletzung unseren Blicken. Die nächste
Nacht verging sehr ruhig. Aber am frühen Morgen, da
wir noch im Bette lagen, kam Frau Harnapp mit der
Mutter in unsere Schlafkammer und rief: JLch muß Ihnen
eine Nachricht bringen/ „Ich weiß schon,* unterbrach sie
der Vater, '„der alte Zingg ist gestorben.* Und so war es.
Eine Stafette war diesen Morgen von Leipzig gekommen
mit der Nachricht, daß Zingg gestern Nacht nach kurzem
Unwohlsein* verschieden sei.* —
Zweifellos hat Kichter's Vater den inneren Zusammenhang
beider Ereignisse richtig erkannt. Es handelt sich
hier um eines jener telepathischen Phänomene, die zum
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