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Antrittsrede von Prof. Dr. Heinrich Bergson. 395
wäre, wenn die heutige Wissenschaft, anstatt von der
Mathematik zur Bearbeitung der Mechanik, der Astronomie,
der Physik und Chemie auszugehen, anstatt alle Kräfte
hinsichtlich der Untersuchung des Stoffes konvergieren zu
lassen, den Geist zunächst in Rechnung gezogen hätte,
wenn eben Kepler, Galilei, Newton zum Beispiel Psychologen
gewesen wären. Wir würden gewiß eine Psychologie
erhalten haben, von der wir uns heute noch keinen Begriff
machen können, so wenig wie man sich vor Galilei einen
Begriff davon machen konnte, was heute unsere Physik bedeutet
: diese Psychologie würde sich wahrscheinlich zu
unserer heutigen Psychologie verhalten haben wie unsere
Physik zu der des Aristoteles. Die Wissenschaft würde,
jeder mechanistischen Idee fremd und nicht einmal die
Möglichkeit einer annähernden Erklärung begreifend, alsdann
solche Tatsachen, anstatt sie a priori auszuschalten,
aufgesucht haben, wie Sie sie studieren. Vielleicht gehörte
dann die psychische Forschung gerade zu ihrer Hauptbeschäftigung
. Wenn nun die hauptsächlichsten Gesetze der
geistigen Tätigkeit entdeckt wären (wie es heute mit den
Grundgesetzen der Mechanik der Fall ist), so wäre man
von dem sogenannten Geiste zu dem Leben übergegangen.
Die Biologie wäre in ihre Hechte getreten, aber eine vitalistische
Biologie, ganz im Gegensatze zu der heutigen, die
aus den sinnlich wahrnehmbaren Formen der lebenden
Wesen die innere unsichtbare Kraft hervorgeholt haben
würde, deren Manifestationen sie ja lediglich darstellen.
Uber diese Kraft nämlich wissen wir heute soviel wie noch
garnichts, weil eben unsere Wissenschaft von dem Geiste
noch ganz in den Anfangsgründen sich befindet. Und daher
haben die Gelehrten nicht so Unrecht, wenn sie dem
Vitalismus vorwerfen, daß er eine unfruchtbare Lehre sei.
Gev/iß ist er heute noch unfruchtbar, aber er wird es vielleicht
nicht immer bleiben, und er wäre es wahrscheinlich
nie gewesen, wenn die moderne Wissenschaft ursprünglich
die Dinge an einem anderen Ende angefaßt haben würde.
Und gleichzeitig mit dieser vitalistischen Biologie wäre eine
Medizin ins Leben getreten, die direkt nicht ausreichender
Lebenskraft zugesteuert haben würde, welche der Ursache
und nicht nur den Wirkungen näher getreten wäre, dem
Zentrum, anstatt lediglich der Peripherie. Die Suggestions-
Therapeutik würde dann Gestaltungen und Dimensionen
angenommen haben, wovon wir uns auch nicht im mindesten
heute einen Begriff zu bilden vermögen. In gleicher Weise
würde sich eine Wissenschaft von der geistigen Tätigkeit
erhoben und entwickelt haben. Doch wenn die Wissen-
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