http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1914/0408
Kaindl: Über wahre und falsche Moral.
401
Im Hinblick auf die Natur- und Menschheitsgeschichte
und deren Konflikte zu behaupten, es wären nur die der
Selbsterhaltung dienenden Kräfte, die allein solches bewirkten
und es wäre keine natürliche Gegenkraft dabei beteiligt
, ist ungefähr ebenso vernünftig, als wenn man angesichts
der kosmischen Bewegungen der Himmelskörper in
der Ansicht verharren wollte, als wären jene Bewegungsphänomene
das Resultat einer einzigen Kraft, und wäre ein
Zusammenwirken zweier konträrer Kräfte — der Centripetal-
und der Tangential - Kraft — hierzu nicht erforderlich. —
Mit Bezug auf die im sozialen Leben wirksame Gegenkraft
sagt der vorerwähnte Autor unter anderem Folgendes:
„ Auch ir der völlig unmoralischen*) außermenschlichen Natur
steht den egoistischen, die Individuen trennenden Instinkten
ein einigendes Prinzip (das Assoziationsprinzip) gegenüber.
Die Proklamation des Kampfes aller gegen alle und des
moralischen Faustrechts, welches das Individuum zur vollendeten
Selbstherrlichkeit beruft, vermochte nicht zu verhindern
, daß sich daneben Einzelne und Gruppen erhalten,
deren Handlungen von altruistischen Motiven geleitet sind,
die in den Werken des Mitleids, der Barmherzigkeit, der
Solidarität zum Ausdruck kommen. Es ist dies eine tröstliche
Tatsache, die aber nicht auf dem Boden der natürlichen
(naturalistischen) Moral erblüht ist. Und wenn bei
Unglücksfällen, Erdbeben, Überschwemmungen, Pestilenzen
und Kriegen diese altruistisch empfindenden Gruppen größere
Kreise ziehen, so kann das eben doch nur als ein Symptom erfaßt
werden, daß das Menschliche im Menschen doch entwicke-
lungsfähig geblieben ist, aber nicht infolge der darwinisti-
schen Moral, sondern soweit es im Gegensatze zu ihr verharrte
. ■ **) —
Das alte Religionssystem des Zoroaster, das den Kampf
zweier entgegensetzter Prinzipien annahm, eines guten und
eines bösen, der schließlich mit dem Sieg des guten enden
werde, enthält zweifellos mehr Wahrheit und verrät mehr
philosophischen und wissenschaftlichen Geist, als das ganze
*) Unterzeichneter glaubt in seiner 1876 (bei Konrad Wittwer,
Stuttgart) erschienenen Abhandlung: „Versuch einer monistischen
Begründung der Sittlichkeitsidec" unwiderlegt nachgewiesen zu
haben, daß alle menschliche Sittlichkeit auf dem allmählich immer
klarer werdenden Bewußtwerden der in der ganzen Natur
herrschenden Ordnungsgesetze und speziell der in der
höheren Tierwelt schon deutlich hervortretenden, bis zur Aufopferung
des eigenen Lebens führenden, also altruistischen Liebes«
triebe beruht. M a i e r.
**) Gustav Weng, ,Schopenhauer-Darwin*.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1914/0408