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422 Psychische Studien. XLI. Jahrgang, i. Heft. (Juli 1914.)
als wirklich bestehend zu registrieren. Es ist ia schließlich
Aufgabe der Naturwissenschaft, alles zu .beobachten, was
in der Natur vorgeht, und wenn man sich erlaubt, von
einer „voraussetzungslosen" Wissenschaft zu sprechen, dann
darf man auch diese Erscheinungen, die gewiß das höchste
Interesse eines denkenden Menschen hervorrufen, nicht
einfach ignorieren.
Alles Neue — obgleich es sich hier um Phänomene
handelt, deren Beobachtung so alt ist wie das Menschen-
geschlecht, - hat gegen fwei Widerstände anzukämpfen:
gegen den passiven Widerstand der ungebildeten Menge
und den aktiven der wissenschaftlich gebildeten Kreise.
Zur Besiegung beider gehört Zeit und Geduld. Das war
immer so und wird immer so sein, ob es sich in früheren
Zeiten um die Anerkennung des Harvey'schen Blutkreislaufes
wie der Heilwirkung des Chinins, oder ob es sich
in späteren Zeiten um die Anerkennung der aseptischen
Wundbehandlung (Semmelweis), des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft (Robert Mayer), der Hypnose oder der Wünschelrute
gedreht hat.
Es ist schon einmal so, daß der Aberglaube von heute
das Wissen von morgen, und das Wissen von gestern der
Aberglaube von heute werden kann. Das beweist die Geschichte
der Wissenschaft aufs Schlagendste. Das mögen
sich alle diejenigen merken, die leichten Herzens, ohne
die geringste literarische Kenntnis, ohne eigene Erfahrung
oder auf Grund ganz oberflächlicher Beobachtungen hin
jeden, der sich das Studium dieser psychischen Phänomene
angelegen sein läßt, des Aberglaubens zeihen oder ihm gar
eine gestörte Mentalität vorwerfen.
Man prüfe zuerst kritisch und genügend lang! Das ist
wohl das Wenigste, was man verlangen kann. Vielleicht
stellt es sich dann denn doch heraus, daß Aberglaube oder
gestörte Mentalität wo anders zu suchen sind, als bei
Männern wie Crookes, Riebet, Barrett, Flaramarion, Oliver
Lodge, Bergson, Lombroso, Morselli, Schrenek-Notzing usw.!
Denjenigen „praktischen* Menschen aber, die nie alle werden,
und die fragen sollteu, wozu denn überhaupt solche Untersuchungen
gut wären, diesen sei neben Anderem, das ich
aus Höflichkeit verschweigen will, gesagt, daß man vor
allem nie weiß, wozu etwas gut ist. Wahrscheinlich
hat man dieselbe Einwendung auch dem jungen
James Watt seinerzeit gemacht, als er in träumerischer
Stimmung am Kamin lange beobachtete, wie sich der
Deckel der Teekanne durch den ausströmenden Wasserdampf
hob. Und doch haben die Folgen dieser „un-
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