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462 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 8. Heft. (Anglist 1914.)
Selbstherrlichkeit des Individuums oder umgekehrt das
Individuum der Gesamtheit zu opfern, sondern vielmehr das
Bestreben zeigt, die beiden heterogenen Tendenzen mit einander
in Harmonie zu setzen, wodurch die Interessen des
Individuums mit jenen der Gesamtheit in Einklang kommen
würden.
Anstatt des Kampfes ums Dasein, der ja doch nur ein
Anzeichen von rudimentärer Entwickelung und von der
Prävalenz des Egoismus ist, hätte man sich die organische
Entwickelung zum Vorbilde nehmen sollen, was schon insofern
geboten gewesen wäre, als man sich daran gewöhnt
hat, den historischen, vom Menschen in der Kultur bewirkten
Fortschritt als die naturgemäße Fortsetzung der
organischen Entwickelung zu betrachten (Weng S. 26, 34, 35).
Vor allem hätte man da zu berücksichtigen gehabt, daß
alle organische Entwickelung von innen nach außen erfolgt
und nicht umgekehrt. Anstatt aber in richtiger Würdigung
dieser Tatsache die Qualitäten, Fähigkeiten und Potenzen
des Innern oder Unterbewußten als die für eine naturgemäße
Fortentwickelung maßgebenden Faktoren zu betrachfen und
ihnen die Vorherrschaft zu sichern, hat man in totaler Verkennung
derselben das genaue Gegenteil davon getan, indem
man die Eigenschaften, Vermögen und Kräfte des
Äußern oder Oberbewußten — welches ja gegen jenes Primäre
und Entwickelnde nur ein Sekundäres und Entwickeltes
ist —, als diejenigen Faktoren ansah, die allein
bei einer naturgemäßen kulturellen Entwickelung Berücksichtigung
finden dürfen.
Anstatt dort, von woher die Höherentwickelung erfolgt,
nämlich im Innern des Höchstentwickelten, die weiteren
Absichten und Ziele der fortschrittlichen Entwickelung zu
studieren, wandte man sich an das Äußere des Minderentwickelten
und verfiel so in den verhängnisvollen Fehler,
rudimentäre Entwickelungsformen für allgemein giltige Ent-
wickelungsnormen zu halten. Man folgerte, daß „jeder so
viel Recht als Macht habe, daß alles Natürliche moralisch
sei und daß die Moral, die sich den biologischen Gesetzen
- entgegenstellt, ein bloßes Kunstprodukt sei und keine Existenzberechtigung
habe* (Weng S. 27). Als sich durch den
Irrtum der vom Egoismus verblendeten Intelligenz das
Oberbewußte vom Unterbewußten völlig emanzipiert hatte
und dadurch auch die Fühlung mit dem natürlichen Ent-
wickelungsprinzipe verlor, machte sich dies im großen
sozialen Organismus, infolge einer hierdurch bewirkten
bedeutenden Lockerung in der inneren Verbindung seiner
Teile und Verwirrung"in ihren Verhältnissen, in einer
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