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Wenzel-Ekkehard: Spiritismus und Wissenschaft. 465
wenn einzelne Formen an die individuelle Veranlagung
des Versuchsobjektes gebunden, über das gewöhnliche Maß
gesteigert oder zu gewissen Zeiten verschieden sind, sodaß
sie nicht jederzeit gleichmäßig studiert werden können oder
der Eintritt der Untersuchungsmöglichkeit abgewartet
werden muß. Dieser Fall tritt besonders beim Spiritismus
ein, der ähnlich wie die Kunst auf besondere Begabungen
angewiesen ist. Auch darin gleicht er dieser, daß eine
systematische Entwickelung der vorhandenen Begabung das
Resultat zu steigern imstande ist.
Selbstverständlich ist das ganze weite, heute noch
unter dem Namen „Spiritismus* bekannte Tatsachen-Gebiet
genau so gut im allgemeinen, wie in einzelnen Teilen der
wissenschaftlichen Forschung zugänglich. Man kann es sowohl
naturwissenschaftlich behandeln, wie den Fächern der
Geisteswissenschaften angliedern. Im ersteren Falle, als
Naturvorgang betrachtet, handelt es sich um Erforschung
einer Energieart, die, wiederholt spontan
auftretend, unserer Kenntnis sich aufgedrängt hat, die wir
aber auch experimentell hervorrufen und ihre Eigentümlichkeiten
gesondert studieren können. Im anderen Falle
bietet sie sich der historischen Forschung im Geschiehts-,
Sagen- und Mythenstoff dar, sowie bei Vergleichung des
ersten mit dem zweiten der Naturphilosophie zur Beobachtung
der Entwickelung des4'Wahrnehmungsvermögens und
der Kunstwissenschaft zur Beurteilung der Gestaltungskraft.
Wenn der bisher erkennbare Tatsachenbestand des
„Spiritismus" noch nicht in dem der Wichtigkeit des Stoffes
entsprechenden Maße geordnet und den anderen Wissensgebieten
angegliedert worden ist, so liegt das an zwei in
der menschlichen Natur tief sitzenden Instinkten: dem Abscheu
gegen das Tote und der Ehrfurcht vor dem Ewigen.
Dem Spiritismus gegenüber äußern sie sich als Gespensterfurcht
und Unsterblichkeitsglaube. Zum Hemmnis für die
Wissenschaft sind sie bisher dadurch geworden, daß sie
einesteils aufgesucht wurden — die Gespensterfurcht als Nervenreiz
, der Unsterblichkeitsglaube als Trost — und andern-
teils verabscheut wurden, — die erstere als Aberglaube, der
zweite als Feind der exakten Naturerkenntnis. Bei näherer
Betrachtung erweisen sich diese Hemmnisse als Vorurteile,
die man bei einem wissenschaftlichen Arbeiter nicht antreffen
sollte. Wie der Anatom den Ekel vor dem Kadaver
überwinden muß, so muß auch der spiritistische Forscher die
Gespensterfurcht bemeistem; er muß seine Sinne vollkommen
in der Zucht haben. Es ist darum ein falscher Schluß, der
Spiritismus fördere die Gespensterfurcht und Grusel-
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