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Reich: Religion und Kultur, Person und Gesellschaft. 473
und Seelsorge in genauester Beziehung steht und dem Kultus
der gesitteten Nationen bestens dient. Der Tempel
aber darf keine Halle sein für Mummenschanz, Opfer und
sonstigen barbarischen Mißbrauch, sondern muß in allen
Stücken dem Geiste höchster Gesittung und reinster Religion
sich angepaßt erweisen.
Gewöhnliche Kirchen, welche diesen Voraussetzungen
nicht entsprachen und dem Kultus der Niedrigkeit und des
Egoismus, wie Materialismus dienten, waren immer rohe
Laboratorien des Pfaffenwitzes und pfäffischer Erwerbsund
Handelsinteressen, und lenkten auch in ihren Äußerlichkeiten
von den Wegen ab, auf denen die Heiligkeit un-
verfälseher Religiosität und Religion wandelt." Der Einfluß
solcher Kirchen auf Förderung echter Moral und Zivilisation
ist sehr gering, und umfassende Erziehung kann von ihren
Anwälten und Tempeldienern kaum erwartet werden.
Kultus soll die Ausübung reiner Religion im Alltagsleben
vermitteln. Zu jeder Vermittelung gehören geeignete
Persönlichkeiten und Vorrichtungen. Die Personen, welche
da handelnd wirken, müssen moralisch, geistig und hygiei-
nisch erlesen sein, kräftig, pädagogisch sich betätigen und
durchaus musterhaft leben, ganz ihren Worten entsprechend.
Von dieser Forderung kann nicht ein Deut abgelassen
werden, weil anders dem Mißbrauch Türen und Tore geöffnet
sind, und jeder, der Heil lehrt, auch heilig leben
muß. Zu heiligem Dasein gehören Bedingungen höchst
einfacher Art: Keuschheit und Züchtigkeit, Mäßigkeit und
Enthaltsamkeit, Uberwindung böser Leidenschaften, glückliches
Temperament, edler Charakter, Gesundheit und Gewissenhaftigkeit
, Heiterkeit der Seele, die notwendige Erleuchtung
des Geistes und Bannung sämtlicher Vorurteile.
Dies alles muß durch gute Erziehung und stramme Selbsterziehung
erarbeitet werden.
Wenn Religiosität in ihrer Reinheit auch jeder Seele
angeboren ist und in mannigfacher Weise sich ausdrückt,
kann für den gesitteten Menschen doch nicht vom Unterricht
in bester Religion abgesehen werden, weil derselbe in
hohem Grade dazu beiträgt, die Seele moralisch auszureifen.
Es ist solches höchst gewichtsvoll; denn mit Ausreifen der
Seele vermindern sich die bösen Triebe und Leidenschaften,
schwinden lasterhafte und verbrecherische Neigungen, und
bessern sich alle gesellschaftlichen und persönlichen Verhältnisse
. Sorgfältiger Unterricht erweist sich als Mittel
zur Veredelung aller guten Keime wie Anlagen, und ergänzt
den Einfluß des Kultus auf das Gemüt, indem er an
die Vernunft sich wendet.
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