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474 Psychische Studien. XLI. Jahrgang. 8. Heft. (August 1914.)
Keine der seelischen Fakultäten darf unberührt bleiben
von den Einflüssen des geläuterten Kultus, gleichwie des
vernünftigen Unterrichts in allgemeiner Religion und religiöser
Moral. Je größer die geistige und moralisch - religiöse
Reife der Wesen, desto mehr kann der Unterricht
zu Philosophie der Religion sich erheben; aber soll derselbe
von gutem Erfolg sein, desto gewisser mußten Vorurteile
jeder Art gebannt sein; denn nichts verhindert Verständnis
und Erkenntnis der Religion und erschwert Seelsorge
so bedeutend, als pöbelhafte Vorurteile und verdrehte
Ismen, auf denen oft genug nicht wenige Schulmeister und
Prediger reiten.
Vorurteil ist Lüge, reine Religion ist Wahrheit; beide
stehen zu einander wie Feuer und Wasser, vereinen sich
niemals. Der Gehalt reiner Religion an Wahrheit und
Liebe braucht nicht ermittelt zu werden, weil Religion in
ihrer Wesenheit ganz Wahrheit und Liebe selbst ist. Und
weil das so sich verhält, besitzt jedes Geschöpf in reiner
Religion einen Urquell von Glückseligkeit. Diese letztere
hat nichts Phantastisches oder Utopisches, sondern ist eine
Diamantensäule festester Art für das gesamte Leben und
Weben in Natur und Gesittung. Durch dies Alles machen
Vorurteile einen sehr groben, dummen Strich und arbeiten
Materialismus, Pessimismus, Skeptizismus in die Hände.
Vorurteil hauptsächlich, und sodann gleich Sünde,
verursachen Übertreibungen bei Reue und Sühne; andererseits
wird Übertreibung im Kultus durch die Politik pfäf-
fischer Selbstsucht veranlaßt; es quillt also Selbstzucht oder
Askese teils aus Mahnungen des Gewissens, teils aus wohl
berechneter Selbstsucht, welche nach Einfluß und Erdengütern
lechzt und diese zweitgenannten durch grausames,
Vernunft- und gemütloses Verfahren gegen den eigenen
Körper erarbeitet. Derjenige, welcher es mit Reue, Buße,
Gutmachung des Schadens ehrlich meint und beschränkten
Geistes ist, im Kreise des Fanatismus erzogen wurde und
außerstand ist, höhere Gesichtspunkte zu gewinnen, wendet
gerne der Selbstpeinigung sich zu und glaubt, dadurch den
Zweck der Sühnung zu erreichen; aber» er erreicht nur
wenig, weil blaue Flecke auf der Haut des Sünders
der Gottheit kein Vergnügen machen und dem Selbstzüchtiger
den Hohn der Mitlebenden einbringen. In den
Augen der Welt bedeutet eine solche lächerliche Sühne
so viel, wie ein Schlag mit der Hand auf das Wasser.
Einzige Sühne für Schaden wie Untat ist wirkliche
Sühne aus der Tiefe der Seele durch Gutmachung des gestifteten
Unheils und aufrichtige Bereuung der Untat.
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