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Maurice Maeterlinck bei den denkenden Pferden in Elberfeld. 483
nichts als die Roheit und Undankbarkeit des Menschen gesehen
haben. Könnte man etwas darin lesen, so wäre es
nicht sowohl die kleine, unzulängliche und vergebliche Anstrengung
, die wir Denken nennen, sondern vielmehr eine
unbestimmte große Besorgnis, eine Sehnsucht nach den
grenzenlosen, von Flüssen durchzogenen Ebenen, in denen
sich seine Rasse einst tummelte, ehe sie der Sklaverei des
Menschen verfiel/ Nach einigen Versuchen, in denen das
Pferd u. a. Maeterlincks Namen buchstabiert, läßt der Besitzer
den Dichter mit dem Tier allein, damit er ihm selbst
eine Aufgabe gebe. „Nun bin ich mit Muhamed unter
vier Augen. Ich gestehe, ich bin etwas befangen. Ich
habe oft den Großen oder den Königen der Erde gegenübergestanden
und war durchaus nicht verschüchtert. Mit
wem habe ich hier denn eigentlich zu tun ? Doch ich fasse
mir ein Herz und spreche mit lauter Stimme das erste beste
Zufalls wort, den Namen des Gasthofes, in dem ich abgestiegen
bin: Weidenhof.* Muhamed buchstabiert, bis auf
den letzten Buchstaben richtig. Maeterlinck ist tief ergriffen
: „Das alles verbargen unsere schweigenden Brüder
also vor unseren Blicken! Man schämt sich der langen
Ungerechtigkeit des Menschen. Man sucht ringsum, ich
weiß nicht nach welchen glänzenden oder flüchtigen Spuren
des Mysteriums. Man fühlt sich im Innersten gepackt, in
all seinen Gewißheiten und Sicherheiten erschüttert. Man
fühlt auf seinem Antlitz den Hauch des Abgrundes. Man
könnte nicht erstaunter sein, wenn man plötzlich die Toten
reden hörte.*
Muhamed hat von dem Buchstabieren genug; er geht
zu seinen Lieblingsaufgaben über und zieht mit überraschender
Schnelligkeit die schwersten Quadrat- und Kubikwurzeln
. Der Dichter hat keine Ahnung von den Geheimnissen
der dunklen Rechnung, und als ihn Krall auffordert,
selbst eine beliebige Wurzel an die Tafel zu schreiben, malt
er die ersten besten, recht verwegenen Ziffern hin. „Muhamed
blieb stumm. Krall rief ihn lebhaft an, sich zu sputen.
Muhamed hebt den rechten Huf, läßt ihn aber nicht fallen.
Krall wird ungeduldig, bittet, verspricht und droht in einem
fort; der Huf bleibt aufgehoben, wie um den guten Willen
und die Unausführbarkeit der Sache zu bekunden. Da
dreht sich mein Gastgeber um, sieht sich die Aufgabe an
und fragt: „Ist die Wurzel richtig?* — „Was heißt richtig?
Gibt es auch . . .* Doch ich wage nicht fortzufahren.
Meine uneingeständliche Unwissenheit springt mir plötzlich
in die Augen. Der gute Krall lächelt, versucht aber nicht,
eine so hoffnungslos zurückgebliebene Erziehung zu voll-
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