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Kaindl: Über wahre und falsche Moral. 523
(I. Abteilung.
Theoretisches und Kritisches.
Über wahre und falsche Moral mit Bezug
auf die natürliche Entwickelung.
Von Alois Kaindl (Linz a. D.).
(Fortsetzung von Seite 451.)
Eine Schöpfung der hier charakterisierten oberbewußten
Geistesfähigkeit ist der moderne Naturalismus mit seiner
egoistischen Pseudo-Moral. Daß der moderne Naturalismus
nicht darauf Anspruch erheben kann, die Menschheit von
den Bahnen einer unnatürlichen kulturellen Entwicklung
auf die einer natürlichen geführt zu haben, sondern, indem
er das Oberbewußte dem von ihm negierten Unterbewußten,
welches den natürlichen Nährboden aller organischen Entwicklung
bildet, entfremdete, das gerade Gegenteil hiervon
bewirkt, läßt sieb klar aus den Darstellungen erkennen,
welche wir dem bekannten deutschen Philosophen Eucken
über diesen Gegenstand verdanken, was mich denn auch
bestimmt, dieselben ihrem wesentlichsten Inhalte nach hier
anzuführen. Er sagt 1.
„Dem Idealismus, bei dem wir es nicht verstanden
haben, das Wertlose vom Bleibendgiltigen zu trennen,
steht der Naturalismus mit seiner Geschlossenheit, seiner
sinnlichen Nähe, seinen leicht begreiflichen Zielen gegenüber
; ist es ein Wunder, wenn dem Hauptzuge der Zeit
sein Triumph schon entschieden gilt? Nur das ist die
Frage, ob das Urteil der Zeit eine entgiltige Entscheidung
enthält und ob die Philosophie sich bei ihm beruhigen kann.
Daß sie es nicht kann, ließ uns die Durchwanderang
der Geschichte zur Genüge ersehen. Denn wie viel dabei
an der geistigen Leistung als problematisch und vergänglich
erschien, es wurden dabei Kräfte und Tiefen des
Lebens ersichtlich, die seinem Wesen angehören, die sich
durch menschliche Meinung und Neigung wohl verneinen,
nicht aber aufheben lassen. Wie viel Schwanken und gelegentlich
auch Rückläufigkeit die geschichtliche Bewegung
aufweisen mag, darüber kann kein Zweifel sein, daß sich
immer mehr inneres Leben gegenüber der Außenwelt ausgebildet
und dies Innenleben immer selbständiger gemacht
hat; es ging eine Art von Umkehrung vor sich, indem sieh
mehr und mehr der Schwerpunkt von außen nach mnen
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