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56 Tsychische Studien. XLJ. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1914.)
jeden gegeben, ja man wird sogar finden, daß die am
moralischsten leben, die am wenigsten glauben; allein ein
schiefer Kopf, der keinen Glauben hat, ist ein sehr gefährliches
Glied der Gesellschaft. Die meisten Menschen wissen
gar nicht, was sie glauben; sie verwerfen die Religion, weil
sie ihren Leidenschaften widerspricht; andere wieder, um
die Mode mitzumachen, noch andere, um sich den Ruf gescheiter
Leute zu verschaffen. Diese starken Geister
[„esprits forts* im Sinne oberflächlich gebildeter, frivoler
„Freidenker*, Red.] mißbillige ich sehr; aber die kann ich
nicht verdammen, welche sich bemühen, die Wahrheit aufzusuchen
, um die Vorurteile loszuwerden; ich bin sogar
überzeugt, daß Menschen, die sich ans Nachdenken gewöhnen
, tugendhaft sein müssen; indem man die Wahrheit
sucht, lernt man richtig urteilen, und indem man richtig
urteilen lernt, muß man die Tugend liebgewinnen.* —
Ihre Tierliebe beweist der folgende Passus: Zur
Kräftigung ihrer teils durch Kummer, teils durch un-
sinnige^ ßfhandlung der Ärzte, die ihr' in acht Monaten
zehnmal zur Ader gelassen hatten, untergrabenen Gesundheit
hatte ihr Zeitz zunächst Selterswasser mit Milch
verordnet und ihr vorgeschrieben, während der Kur viel
Bewegung zu machen. Sie schreibt nun (S. 402: »Ich
lernte schießen und ging fast jeden Abend mit dem Markgrafen
[ihrem Gemahl: der alte Markgraf war nach qualvollen
Leiden am 16. Mai d. J. gestorben] auf die Jagd.
Da ich meiner noch anhaltenden Schwäche wegen nicht
lange zu Fuß gehen sollte, hatte mir der Markgraf einen
Wagen machen lassen, aus dem ich sehr bequem schießen
konnte. Ich tat dieses mehr zum Zeitvertreib, als um die
armen Tiere zu töten, denn ich liebe die Jagd nicht und
gab sie auf, sobald ich andere Beschäftigung fand; meine
herrschenden Leidenschaften waren immer Wissenschaft,
Musik und besonders die Freuden der Geselligkeit [die
kunstvolle Ausstattung der von ihr zu diesem Zweck erbauten
reizenden Eremitage, wo sie diese Memoiren schrieb,
bei Bayreuth zeugt noch jetzt von ihrem feinen Geschmack
in dieser Hinsicht — Red.]; diese konnte ich nicht, wie ich
wünschte, befriedigen; meine Gesundheit yerbot mir, mich,
wie ehemals, angestrengt zu beschäftigen und Musik und
Gesellschaften waren abscheulich.* —
Viel Ärger durch bösartige Klatschereien und elende
Verleumdungen brachte ihr noch im gleichen Jahr ihr
Aufenthalt am Hofe des Bischofs in Bamberg, wo sie mit
ihrer an den Markgrafen von Ansbach verheirateten
Schwester und deren Gemahl auf Besuch war; hatten doch
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