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566 Psychische Studien. XLI. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1914.)
künstlichen Ersatzmitteln dieser Art, verdiente die Moral
Schopenhauers als die natürliche bezeichnet zu werden,
weil sie im inneren Wesen der Natur begründet, eine organische
Entwickelung derselben bildet, die unter angemessenen
Bedingungen hauptsächlich im Menschenwesen offenbar wird.
Der Katuralismus, der für seine egoistische Moral die Natürlichkeit
in Anspruch nimmt, besitzt hierzu ebensowenig
ein Recht, wie der Idealismus, da beide ihre Moral nur auf
Gedankenprozesse stützen, nur mit dem Unterschied, daß,
während jener sich hierbei mit Perhorreszierung der inneren
direkten Erfahrung nur der äußerer Sinneserfahrung
bedient, dieser von beiden abstrahiert. —
Auf ein souveränes Gesetz, das Anderes zu bezwecken
scheint, als dem egoistischen Bestreben der Menschen zu
dienen, deutet die Tatsache, daß die Konsequenzen des
Egoismus weitergehen, als im Interesse desselben gelegen
ist, und in der Folge einen Grad erreichen, daß von einer
Adabsurdumführung des Egoismus gesprochen werden darf.
Vielleicht kann der Verlauf des grandiosen Shakespearedramas
„Bichard III.*, der durch die folgenden Stellen
darin gekennzeichnet wird, uns dies veranschaulichen:
„Doch bin ich nun
Zu tief ins Blut hineingeraten,
Und Missetaten fordern Missetaten." IV, 2.
-Der Schuld folgt Schuld, dem Unrecht Unrecht nach.*
V, 1.
,Des Glückes Üppigkeit wird reif und fällt
Hinab in den Verwesungsschlund des Todes.* IV, 4.
Ist die Prävalenz des Egoismus eine allgemeine, so
nimmt er unter dem Einflüsse der Intelligenz die gefährliche
Form des Kollektivegoismus an, der vermöge seiner
institutionellen Entwickelungen das größte äußere Hindernis
für die moralische Entfaltung des Individuums bildet.
„Der Kollektivegoismus,* sagt Weng, „ist zu allen Zeiten
der furchtbarste gewesen. Das Verbrechen, das sich oft
an der Gewissensschranke des Individuums bricht, ehe es
Tat geworden, wird zu einem alles niederreißenden Strome
des Verderbens, der wild und schrankenlos dahinbricht,
sobald er einen Kreis von Individuen* eine Kollektivität,
eine Masse , ein Volk bewegen kann. — Dann wird das
Verbrechen sogar zum Ruhme, zur sozialen Institution, zum
Rechts- und Moralbegriff. — So haben die Folgen des
Raubeinbruches Wilhelm des Eroberers in England noch
heute in diesem Lande moralische und Gesetzeskraft. —
Dieser Kollektivegoismus wird durch die darwinistischen
Theorien als naturgesetzlich, notwendig und moralisch
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