http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1914/0585
568 Psychische Studien. XLL Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1914.)
Weisen/ so hat er nicht bedacht, daß es dabei nicht so
sehr auf das Sollen, als vielmehr auf das Können ankommt.
Ehe nicht die korrumpierende Macht des Kollektivegoismus,
der ja nur die Herrschaft der moralisch Unentwickelten
bedeutet, vollständig gebrochen ist, kann an einen erfolgreichen
Appell an das bessere Ich nicht gedacht werden,
und diese Macht kann nur überwunden werden, wenn die
Menschheit zur Einsicht gelangt, daß der Minorität der
geistig und moralisch Höchstentwickelten und nicht der
Majorität der zwar Intelligenten, aber moralisch Tiefstehendsten
die Leitung der menschlichen Angelegenheiten
und Eegelung ihrer Verhältnisse anvertraut werden darf."
Eine in der Absicht der Natur gelegene Höherentwickelung
ist nur durch den Individualismus erreichbar,
worunter aber nicht der vom Naturalismus vertretene acci-
dentielle Individualismus zu verstehen ist, der sich die Ausbildung
des sekundären oberbewaßten Ichs mit seinen dem
Selbsterhaltungstriebe dienenden Instinkten und Neigungen
zur Aufgabe macht, sondern der essentielle Individualismus,
welcher die Verwirklichung des primären unterbewußten
Ichs mit seinen der Vollkommenheit der schöpferischen
Originalidee entsprechenden Bedürfnissen und Neigungen
erstrebt.
Einen wahren und energischen Vertreter des essentiellen
Individualismus finden wir in Ralph Waldo Emerson
; doch würde er, wenn ihm dieser nicht als berechtigt
erschieaen wäre, ebenso entschieden für den accidentiellen
Individualismus eingetreten sein. In seinen „Essays" äußert
er sich hierüber in folgenden bedeutsamen und beherzigenswerten
Worten: „Wer ein Mann sein will, muß ein Dissident
sein; er darf sich durch das Wort ,gut* nicht beeinflussen
lassen, sondern muß prüfen, was wirklich gut ist.
Zuletzt ist nichts heilig, als die Integrität des eigenen
Geistes. Sprich dich selber los und du wirst die Stimme
der Welt haben. Ich erinnere mich einer Antwort, die ich
als junger Bursche beinahe unwillkürlich einem geschätzten
EaiebSr gab, der mich mit den lieben alten Lhren der
Kirche zu quälen pflegte. Als ich nämlich sagte: »„Was
hab' ich mit der Heiligkeit der Tradition zu tun, wenn ich
ganz nach den Geboten des Innern lebe?"*, meinte mein
Freund: „„Aber diese Impulse können leicht vom Bösen
und nicht von oben kommen!** und ich erwiderte: „»Es
scheint mir nicht, daß dies der Fall ist, aber wenn ich des
Teufels Kind bin, dann will ich auch nach des Teufels Geboten
leben!*44 Kein Gesetz kann mir heilig sein, als das
meiner eigenen Natur. „„Gut"* und „„schlecht** sind nur
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1914/0585