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604 Psych. Stud. XLI. Jahrg. 11. u. 12. Heft. (Nov.-Dez. 1914.)
wünscht habe, möglich war, werde ich das nächste Bild Tag für
Tag studieren.
So wie es ist, ist das Bild des Judas von derselben Art, wie
der Christus, die Jungfrau und die Apostel der Helene Smith. Es
gehört dazu nach seinem physischen Typ, seiner Farbe und seiner
Malweise. Es «Messt sich ihnen an durch dieselbe Verbindung
von objektivem Realismus, Naivität und Idealismus. Der Mann
von Kerioth sitzt auf einem Stein unter einem Felsen, über den
ein alter Olivenbaum seine Zweige ausbreitet. Judas hat nicht
das abstossende und teuflische Gesicht, das ihm die alten und die
modernen Meister der religiösen Malerei geben. Er ist nachdenklich
und ernst; sein Schmerz wirft auf seine Züge einen leichten
Schatten und zeigt sich nur durch die Tränen, welche über seine
Wangen f Hessen. Um seine Haare ist eine Schnur geschlungen. In seiner
Hand befindet sich der einem Sacke, welcher auf der Erde neben
dem leeren Geldbeutel liegt, entnommene Riemen. Die Füsse
sind nackt. Auch sieht man die zerbrochenen Stücke eines Reisestabes
, um die noch die Schnüre einer Kürbisflasche geschlungen
sind.
Schweigen und Einsamkeit herrscht überall unter dem
dämmernden Himmel, in dessen kupferfarbiges Licht die fernen
Hügel getaucht sind. Judas ist allein unter den Ästen des Ölbaumes
, die ihn versuchen, — allein mit seinen Gedanken und
seinen Gewissensbissen. Doch ist ihm in seinem Unglück e i n
Freund geblieben: sein ruheloser Hund, der ihn anblickt und ihn
zu /ragen scheint.........
Besessenheit.
Von Dr. Grävel 1-Lugano.
(Fortsetzung und Schluß von Seite 56 n)
Seltsam berührt es vielleicht zu hören, dass körperliche Miss-
handlangen von Erfolg begleitet seien, wie es noch heute im Orient
bei Geisteskranken — und fast alle Geisteskranken sind mehr oder
weniger besessen — üblich ist, und im Mittelalter auch bei uns vorkam
. Allein hier spricht die Erfahrung. Schon die alten Perser
wandten die Geißelung häufig an, ähnlich wie heute beim Braun-
scheidtismus, wo durch das Blut die schlechten Säfte
herausgehen sollen. Manche Besessene scheinen dies selbst zu
wünschen, da sie es als eine Erleichterung empfinden.
Namentlich bei selbst geschaffener Umsessenheit spielt natur-
gemäss das äussere Verhalten eine grosse Rolle. Bei irgendeiner
Monomanie ist die innere Harmonie gestört. Es bilden sich
Knoten in dem inneren Körper, die sich auch schliesslich äusserlich
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