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610 Psych. Stud. XLI. Jahrg. 11. u. 12. Heft. (Nov.-Dez. 1914.)
fliegen, manifestiert sie nicht weniger die entgegengesetzte Bewegung
. Tatsächlich erfährt die Seele an sich selbst die aller-
positivste Anziehung vermöge ihrer eigenen integralen Substanz,
der Mensch ist für Centralisation organisiert. Er kann nicht von
seinem, den Angelpunkt bildenden, Allerinnersten wegfliegen.
Hierauf beruht die ganze Wissenschaft des Individualismus. Individualismus
ist die Wissenschaft der Centralisation, die Lehre
vom Gesetz der geistigen Mechanik, von Rotation und Revo-
lution, die Philosophie der harmonischen Beziehungen zwischen
Centrum und Peripherie. — Was der Mensch auch vollbringen
mag, geschieht von und nach seinem Centrum der Umdrehung.
Wenn der Geist eine konstante Tendenz für das eigene Wohl
ohne Rücksicht auf das Wohlergehen Anderer bekundet, dann
bezeichnen wir es als Selbstsucht, welche die niedrigste Stufe des
Individualismus charakterisiert. Ein solcher Geist ist beschränkt
und bedarf der Erweiterung, bedarf eines Ausgleichs des Mißverhält-
nisses zwischen Centripetalismus und Centrifugalismus durch eine
Hinneigung zu letzterem. In solchen Fällen wackelt und humpelt
der Mensch um sein Centrum herum wie ein Rad, das sich ohne
Beziehung und ohne Verhältnis zu seiner Bestimmung bewegt.
Die Selbstsucht ist das Charakteristikum von grober Unwissenheit
inbezug auf das Gesetz einer allgemeinen Solidarität. Em
Schwamm, der jede Flüssigkeit in seiner Nähe aufsaugt, ein
Meereswirbel, dir jeden sich ihm nahenden Gegenstand in die
Tiefe zieht, ein unfruchtbares Feld, eine Wüste, die Tau und
Regen begierig verschluckt, ohne dafür auch nur einen Grashalm
zurückzugeben, dies alles ist erträglicher zu schauen als ein selbstsüchtiger
Mensch. Die unvermeidliche Begierde solcher Selbstsucht
- die Heftigkeit, mit der sie unseren Sinn für individuelle
Harmonie beleidigt, macht den Zustand ganz besonders ab-
stoßend.
Vom essentiellen Individualismus, worunter man die Gestaltung
des äußeren Ichs nach seinem idealen inneren Vorbilde,
die Verwirklichung der eingeborenen Persönlichkeitsidee, zu verstehen
hat, wodurch sich das Individuum als ein harmonischer
Teil in ein organisches Ganze fügt, es mit der Gesamtheit in Harmonie
setzt, sagt Davis, daß ein seinen Anforderungen gemäß
lebendes Individuum einem Brunnen gleiche, der von seinem
Centrum aus nach allen Seiten hin belebende Wasser sprenge,
einer Seele, die ihre Kreisbahn bis an die Grenzen der Schöpfung
ausdehne, und daß es die höchste Form des Individualismus, eine
Identifizierung des Individuums mit der Gesamtheit sei. Manche
Charaktere seien so groß und göttlich, daß
nichts Geringeres als d i e G 1 ü c k s e 1 i g k e i t d e s
Universums ihrem Individualismus genügen
könne. — 1
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