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Kaindl: Über wahre und falsche Moral
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Für die Minorität der moralisch höchst entwickelten Menschen
, sowie für die Tierwelt mit ihrer rudimentären natürlichen
Moral, die immerhin noch unendlich höher steht als die intelligent
ersonnene des Naturalisten, gilt das, was Karl May in
seinem Roman „Am Jenseits" sagt und was zugleich den Unterschied
kennzeichnet zwischen christlicher und wahrer natürlicher
Moral. Es lautet:
„Die Sehnsucht nach Erlösung geht durch die ganze
Schöpfung, durch die ganze Erdenwelt, durch die ganze Menschheit
. Grad in der heutigen Zeit ist es kein stilles, heimlich klagendes
Verlangen, sondern ein lautes Schreien nach Liebe; aber
die, denen es gilt, die wollen es nicht hören! Nicht nur aus
menschlichem Munde, sondern auch von den Lippen des unter
dem unbarmherzigen Messer gemarterten Tieres ertönt dieser
Jammerschrei. Nicht nur der Mensch, sondern auch die fälsch-
lischerweise .leblos' genannte Kreatur wartet auf die Erlösung.
Gebt sie ihr! — Die Liebe lächelt nicht immer! Sie bittet, und
was man ihr versagt, was man ihr von ihren Rechten vorenthält
, das holt und nimmt sie sich mit unwiderstehlicher Gewalt,
nachdem sie ihre linde, milde Hand in die strafende Faust des
Zornes verwandelt hat! Gebt also dem Flehen Gehör, und wartet
nicht, bis ihr aus Zwang geben müßt, was mit eiserner Strenge
von euch gefordert wird." —
Das Christentum hat, indem es Liebe ohne ihr
natürliches Gegenstück, den Haß, zum Sittengebote erhob, d i e
natürliche Moral verwässert und dem echt
moralischen Gefühl der Entrüstung Eintrag
getan, das als natürliche Reaktion sich einzustellen pflegt,
wenn wir von Unrecht oder Gewalttat direkt oder indirekt Kunde
erlangen.
Man täte aber den heutigen Durchschnittschristen zu viel
Ehre an. wenn man ihre Entrüstungsunfähigkeit und ihren In-
differentismus, den sie den Brutalitäten des Naturalismus gegenüber
bekunden, auf diesen Fehler ihrer Moralsystems zurückführen
wollte, anstatt auf ihren stupiden Egoismus, in dem sie den Naturalisten
kaum nachstehen. Da das Gefühl der Entrüstung, wie
es dem menschlichen Mitgefühl entspringt, mit den daraus resultierenden
Handlungen, die natürliche Gegenwirkung gegen Unrecht,
Gewalt und Grausamkeit ausmacht und in seiner ungehemmten
Funktion eine mächtige Kundgebung dagegen bildet, so ist es
klar, daß mit dem Schwinden desselben auch der Glaube an eine
allwaltende Gerechtigkeit immer mehr verloren gehen muß. Denn
es ist durchaus wahr, daß, wie Bernhard Shaw einmal gesagt
hat, sich die Gerechtigkeit Gottes
in dieser Welt nur in dem Maße offenbaren
kann,als s i e i m M e n s c h e n als seinem eigent-
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