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•622 Psych. Stud. XLI. Jahrg. 11. u. 12. Heft. (Nov.-Dez 1914.)
klären, da haben Leute Erscheinungen naher Verwandter und erhalten
bald darauf die Nachricht von ihrem Tode, da wird ein
jahrelang Gelähmter, dem ärztliche Kunst nicht helfen konnte, gesund
gebetet, Warzen, die vergeblich behandelt waren, verschwinden
nach dem Besprechen, eine Frau bringt ein Kind mit
irgendwelchen abnormen Malen oder Missbildungen zur Welt, sie
hat sich „versehen".
„Aberglauben" rufen die neunmal Weisen auch wenn der
Berichterstatter der nüchternste und glaubwürdigste Mensch ist.
Warum aber hören die Prozessionen zu wundertätigen Heiligenbildern
nicht auf, warum vermag alle Aufklärung und Volksbildung
den Kirchen nur relativ wenige zu entfremden, trotz all des Überlebten
, ja Widersinnigen vieler Kultgebräuche und Dogmen? Weil
es das, was die grosse Menge, und was die Vertreter der Kirche
Wunder nennen, tatsächlich gibt, die Wissenschaft also nur ihren
Kredit bei weitesten Kreisen verliert, wenn sie dieselben leugnet.
Im Gegenteil wäre es richtiger, die Gesetzmässigkeiten, welche
hinter allen diesen tatsächlichen Begebenheiten verborgen sein
müssen, abzuleiten, und, wenn irgend angängig, experimentell zu
prüfen. So könnte z. B. der von medizinischer Seite gemachte
Einwand, die Tatsachen des „Versehens" erklärten sich durch zufällige
Missbildungen und die abnormen Gestaltungen kämen nicht
durch seelische Einflüsse zustande, damit entkräftet werden, dass
einer leicht suggestiblen schwangeren Frau etwa unter Berührung
des Oberarmes, m i t E r f o 1 g die Suggestion gegeben würde, ein
Kind zur Welt zu bringen, das an der berührten Stelle einen roten
Flecken haben sollte.
Aus chemischen und biologischen Tatsachen lässt sich ableiten
, dass ein höchst weiser Bauplan der Elemente, wie der Molekularzusammensetzung
der Zellen und dem Aufbau der
Organe zugrunde liegt und für den psychischen Charakter
alles Seins und Werdens der Lebewesen spricht, weiter
dass bei mehrzelligen Wesen zwischen der Zellseele und der
übergeordneten Individualseele zu unterscheiden ist. Nur Komplexe
, die eine Individualseele besitzen, haben die Fähigkeit, zu
dauernd selbständ igem Leben und zur Fortpflanzung; der Tod
eines Menschen oder höheren Tieres ist gleichbedeutend mit dem
Entweichen der Individualseele, während die Zellseelen noch
eine Weile fortleben können.
Ein Organismus enthält soviel Individualseelen wie bei Abtrennung
sich wieder zu einem ausgewachsenen Ganzen entwickelnde
Teile. Danach besitzt also ein Baum, ein Hydropolyp,
usw. viele Individualseelen, das höhere Tier nur eine und die Anlage
zu weiteren in den Fortpflanzungszellen. Die Individualseele
beeinflusst, meist unbewusst, die Zellseelen und damit die körper-
liehe Gestaltung. Sie hat das Bestreben, sich durch Schaffung
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