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8 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 1. Heft. (Januar 1915.)
seitig gemacht, und alle individuellen Interessen mit den Interessen
und der Glückseligkeit des Geschlechts in Harmonie gesetzt
werden könnten?"
Davis spricht dem Menschen die Kraft zu, das in dieser
Frage angedeutete ungeheure Werk zu vollbringen und die Macht
der Selbstsucht zu brechen, deren starre, alle geistige Entwicklung
hemmende Institutionen eisernen Fesseln gleichen, die sich
die Menschheit in ihrer egoistischen Verblendung selbst geschmiedet
hat. Er behauptet kühn: „Der Mensch hat die Kraft, die wichtigen
Züge der Wahrheit, welche unsichtbar und ewig ist, zu begreifen
und zu erforschen, und wenn er die Kraft richtig benutzt
hätte, so würde er nicht fühlen, daß er unter unbeherrschbaren und
vorher angeordneten Umständen existiert, sondern er würde seine
wahre Natur und Würde entfalten durch Erforschung und Beseitigung
der Ursachen, von denen diese Umstände die Wirkungen
sind; und wenn diese Ursachen beseitigt wären, würden die Wirkungen
von selbst aufhören. Aber eine bevormundende Klugheit hat
durch die Welt geherrscht und die Kraft und Neigung zerstört,
diese Umstände zu verändern. — Eine Wiederherstellung seiner
vernichteten Rechte übersteigt auch heute noch seine Begriffe;
denn sein Geist besitzt nicht die Freiheit, sich auszudehnen, wenn
er wollte, oder auch nur auf eine Widerauferstehung zu hoffen.—
Kein Prinzip der Gerechtigkeit oder der Natur ward mehr anerkannt
als eine forttreibende Kraft, um den Menschen in seinen
Handlungen zu bestimmen." —
Aus diesen Darstellungen des Somnambulen würde sich ergeben
, daß die Desorganisation der Gesellschaft und die daraus
entspringenden kriegerischen Verwickelungen die natürlichen Folgen
eines Mißverhältnisses sind, welches zwischen den alles Leben
beherrschenden Grundkräften; der trennenden, den Individualisa-
tionsprozeß bewirkenden, und der ordnenden und einigenden Grundkraft
, welche die eigentliche Triebkraft fortschrittlicher Entwicklung
bildet, infolge einer der rudimentären Evolution eigentümlichen
und naturgemäßen hochgradigen Prävalenz der ersteren
besteht.
Eine Verschärfung hat jenes Mißverhältnis und damit auch
die gegenwärtig daraus resultierende Kriegskatastrophe zweifellos
dadurch erfahren, daß die „Wissenschaft" *der auf Erfahrung
begründeten einfachen Wahrheit, wonach jedes Wesen seine
eigenen, seiner besonderen Natur angemessenen Lebensgesetze besitzt
, mit der Faust ins Gesicht schlug, und den, sowohl den individuellen
, als auch den kollektiven Egoismus in's Maßlose steigernden
„Kampf ums Dasein" zum allgemeinen, auch für die gesamte
Menschheit giltigen, Lebensgesetze erhob.
Nach Davis ist der Krieg kein absolutes Übel, sondern ein
* bloß relatives; eine Art Kinderkrankheit der Menschheit, nicht aus
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