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Kaindl: Per discordiam ad concordiam. Ii
Rede, jedem Zeitungsbericht, jedem Telegramm die Behauptung
wieder, der Zweck aller dieser Orgien sei der Friede Europas.
Nach dem Festmahl, welches die Vertreter der russischen Presse
gaben, sprachen alle vom Frieden. Herr Zola, der noch kurz
vorher schrieb, der Krieg sei unvermeidlich und sogar nützlich,
sowie H. Vogue, welcher in seinen Schriften mehr als einmal dasselbe
behauptet hat, sprachen kein Wort vom Krieg, sondern nur
vom Frieden.--Aber die Listigkeit aller Geisteskranken ist bekannt
, und eben diese beständige Wiederholung, daß man nicht
den Krieg wolle, sondern den Frieden, und die Verschweigung
dessen, was alle denken,— das eben ist die bedrohliche Erscheinung
."—
In vielen Zeitungsartikeln über die Feierlichkeit wird sogar
ganz naiv und geradeheraus die Befriedigung darüber ausge- .
sprochen, daß während der Feierlichkeit von niemand das ausgesprochen
worden sei, was tacito consensu zu verschweigen beschlossen
worden sei» sowie darüber, daß nur ein unvorsichtiger
Mensch, welcher sogleich von der Polizei abgeführt worden sei,
laut geschrien habe, was alle Leute dachten, nämlich: »Nieder mit
Deutschland!* Tolstoi wird durch diese Festlichkeiten zu folgenden
Worten veranlaßt: „Das, was in Toulon und Paris geschah
und jetzt von den Zeitungen fortgesetzt wird, muß augenscheinlich
zu ebensolchem oder noch entsetzlicherem Elend führen, wie wir
es im Türkenkrieg erlebten. — Die Folgen der Touloner und
Pariser Epidemie aber, welche Menschen ergriffen hat, die über eine
furchtbare Macht, ungeheuere Geldsummen, Werkzeuge zur Gewalttat
und zur Verbreitung ihres Wahnsinns verfügen, können
und müssen entsetzlich sein."
Diese reflexive Vorschau seines Geistes ist gefolgt von Bildern,
die ihm seine Phantasie vorzaubert. Nach einer von verlogenen
Zeitungen geführten Preßfehde glaubt er schon im Geiste „die gewöhnliche
, unheilverkündende, abgeschmackte Proklamation:
,Wir von Gottes Gnaden, Selbstherrscher aller Reußen usw.'" zu
erblicken und schildert uns dann mit einer Anschaulichkeit, als ob
er das Künftige schon als gegenwärtig empfände, die sich daran
anschließenden kommenden Ereignisse in ihrer bunten Folge:
„Alle Glocken werden geläutet, langhaarige Menschen kleiden sich
in goldgestickte Säcke und beten für den Mord. Und dann beginnen
wieder die alten, längst bekannten, entsetzlichen Vorgänge. Die
Zeitungsschreiber rühren sich und reizen die Menschen unter 'der
Maske des Patriotismus zum Haß und Mord auf und freuen sich
dabei im stillen, daß ihre Einnahmen sich verdoppeln. Auch die
Fabrikanten und Kaufleute, die Armee-Lieferanten rühren sich in
der Erwartung reicher Gewinne. Es rühren sich auch die Beamten
aller Art, welche die Möglichkeit vor sich sehen, mehr zu stehlen
als gewöhnlich. Es rühren sich auch die Spitzen des Heeres, welche
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